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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Simulationshort herausgeholfen, und die anderen Kadetten und Ausbilder standen ebenfalls auf, redeten miteinander,
lachten – und keiner schien mitbekommen zu haben, dass sich die Welt für immer verändert hatte.
     
    Sechs Wochen lang verbrachte Kassad jede freie Stunde damit, über das Gelände der Militärakademie zu schlendern, und beobachtete von der Brustwehr, wie der abendliche Schatten des Mons Olympus zuerst auf den Wald des Plateaus fiel, dann auf die dichtbesiedelten Hochländer, dann auf alles bis halb zum Horizont und schließlich über die ganze Welt. Und in jeder freien Sekunde dachte er daran, was vorgefallen war. Er dachte an sie.
    Niemand sonst hatte etwas Seltsames in der Simulation bemerkt. Niemand hatte das Schlachtfeld verlassen. Ein Ausbilder erklärte, dass in dieser speziellen Simulation nichts außer dem Schlachtfeld existierte. Niemand hatte Kassad vermisst. Es war, als wären der Zwischenfall im Wald – und die Frau – nie passiert.
    Kassad wusste es besser. Er besuchte den Unterricht in Militärgeschichte und Mathematik. Er absolvierte seine Stunden auf dem Schießstand und in der Sporthalle. Er brachte die seltenen Strafen auf dem Caldera Quadrangle hinter sich. Ganz allgemein wurde der junge Kassad ein noch exzellenterer Offiziersanwärter, als er vorher gewesen war. Aber die ganze Zeit wartete er.
    Und dann kam sie wieder.
     
    Wieder geschah es in den letzten Stunden einer MAO:HTN-Simulation. Inzwischen hatte Kassad gelernt, dass die Übungen mehr als nur Simulationen waren. Das MAO:HTN war Teil des All-Wesens des Weltennetzes, des Echtzeit-Netzes, das die Hegemoniepolitik bestimmte, den Milliarden und Abermilliarden von datenhungrigen Bürgern Informationen fütterte und eine Form von Autonomie und eigenständigem Bewusstsein
entwickelt hatte. Mehr als hundertfünfzig planetare Datensphären vereinten ihre Ressourcen innerhalb des von sechstausend KIs der Omegaklasse geschaffenen Rahmens, der die Funktion des MAO:HTN ermöglichte.
    »Dieses HTN-Ding simuliert nicht«, sagte Kadett Radinski, der beste KI-Experte, den Kassad finden und durch Bestechung dazu bringen konnte, es ihm zu erklären, »es träumt – Träume mit der besten historischen Genauigkeit im Netz, weit mehr als die Summe aller Teile, weil es holistische Einsichten ebenso einspeist wie Fakten –, und wenn es träumt, lässt es uns mit sich träumen.«
    Kassad hatte es nicht begriffen, aber er hatte es geglaubt. Und dann kam sie wieder.
    Im Ersten Vietnamesisch-Amerikanischen Krieg schliefen sie nach einem Hinterhalt zwischen der Dunkelheit und den Schrecken einer nächtlichen Patrouille miteinander. Kassad trug derbe Tarnkleidung – ohne Unterwäsche, damit er sich in der Dschungelhitze nicht wundscheuerte – und einen Stahlhelm, der nicht wesentlich besser war als der von Agincourt. Sie trug einen schwarzen Pyjama und Sandalen, die Einheitskleidung der Bäuerinnen Südostasiens. Und des Vietcong. Als sie sich liebten, trug keiner etwas; sie standen in der Nacht, sie hatte den Rücken an einen Baum gelehnt und die Beine um Kassads Hüften geschlungen, während die Welt um sie herum im grünen Leuchten von Gefechtsfeldmarkierungen und dem Stakkato von Maschinengewehrfeuer unterging.
    Sie kam am zweiten Tag von Gettysburg zu ihm und dann wieder in Borodino, wo Pulverqualmwolken über den Bergen von Leichen hingen wie der Dunst geronnener Seelen.
    Sie schliefen in der zertrümmerten Hülle eines APC in Hellas Basin miteinander, während der Schwebepanzerkrieg noch wütete und der rote Staub des heulenden Simum knirschend und kreischend gegen die Titanhaut prasselte. »Sag mir deinen
Namen«, hatte er in Standard geflüstert. Sie schüttelte den Kopf. »Bist du real – außerhalb der Simulation?«, fragte er im Japanoenglisch dieses Zeitalters. Sie hatte genickt und sich zu ihm gebeugt, um ihn zu küssen.
    Sie lagen nebeneinander an einer geschützten Stelle in den Ruinen von Brasilia, während Todesstrahlen von chinesischen EMVs wie blaue Suchscheinwerfer über zerschellte Keramikwände glitten. Während einer namenlosen Schlacht nach der Belagerung einer vergessenen Turmstadt in der russischen Steppe zog er sie in den schattigen Raum zurück, wo sie miteinander geschlafen hatten, und flüsterte: »Ich will bei dir bleiben.« Sie berührte seine Lippen mit einem Finger und schüttelte den Kopf. Nach der Evakuierung von Chicago, als sie auf dem Balkon im hundertsten Stock lagen, wo Kassad seinen Posten für

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