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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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handeln musste, und grinste angesichts der Gewissheit, dass er nur noch ein paar Sekunden zu leben hatte. Dann fiel ihm die geringe Geschwindigkeit der Objekte auf und er stellte die Vergrößerung höher. Die Energieanzeigen blinkten rot, und der Verstärker fiel aus,
aber vorher konnte Kassad noch die ovale Form erkennen, die von Schubdüsen und Cockpitkuppeln bedeckt war und über je sechs gelenklose Greifarme verfügte. »Tintenfische« hatten die FORCE:Weltraum-Soldaten die Beiboote der Ousters genannt.
    Kassad zog sich noch tiefer in das Wrack zurück. Er hatte nur ein paar Minuten, bis eines oder mehrere der Tintenfisch-Beiboote seinen Teil des Schiffs erreichen würden. Wie viele Ousters befanden sich in so einem Boot? Zehn? Zwanzig? Kassad war sicher, es würden nicht weniger als zehn sein. Und sie würden ausreichend bewaffnet und mit Infrarotsensoren ausgerüstet sein. Es handelte sich um die Elite der Ousters, vergleichbar mit den Weltraum-Marines der Hegemonie, und diese Kommandos waren nicht nur für den Kampf im freien Fall ausgebildet, sondern in Schwerelosigkeit geboren. Ihre langen Gliedmaßen, Greifzehen und Greifschwänze waren in dieser Umgebung unschätzbare Vorteile, doch Kassad war sicher, sie brauchten nicht mehr Vorteile, als sie ohnehin schon hatten.
    Er zog sich vorsichtig durch das Labyrinth aus verbogenem Metall und kämpfte gegen den Adrenalinstoß der Angst an, der ihn dazu bringen wollte, schreiend durch die Dunkelheit zu strampeln. Was wollten sie? Gefangene? Das würde sein unmittelbares Überlebensproblem lösen. Er musste sich nur ergeben, um zu überleben. Die Schwierigkeit bei dieser Lösung war, dass Kassad FORCE:Geheimdienst-Holos des Ousterschiffes gesehen hatte, das sie vor Bressia erobert hatten. Im Frachthangar dieses Schiffes waren über zweihundert Gefangene gewesen. Und die Ousters hatten eindeutig viele Fragen an diese Bürger der Hegemonie gehabt. Vielleicht war es ihnen lästig gewesen, so viele einzusperren und zu verpflegen – vielleicht entsprach es auch ihrer grundsätzlichen Verhörweise –, Tatsache war auf jeden Fall, dass man die bressianischen Zivilisten
und in Gefangenschaft geratenen FORCE-Soldaten ausgeweidet und auf Stahltabletts gespießt gefunden hatte wie Frösche in einem Biologielabor, die Organe in Nährlösungen getaucht, Arme und Beine amputiert, Augen entfernt und das Gehirn mit kruden Kortikalkomtaps und Nebenschlusssteckern, die durch drei Zentimeter große Löcher direkt in den Kopf führten, auf das Verhör vorbereitet.
    Kassad zog sich weiter und schwebte durch Trümmer und die verflochtenen Eingeweide der Schiffsverkabelung. Er hatte nicht die Absicht, sich zu ergeben. Das trudelnde Stück vibrierte und kam etwas zur Ruhe, als sich mindestens ein Tintenfisch an Hülle oder Schott festsetzte. Denk nach!, befahl sich Kassad. Dringender als ein Versteck brauchte er eine Waffe. Hatte er auf dem Weg durch das Wrackteil etwas gesehen, das ihm helfen konnte, zu überleben?
    Kassad stoppte und hielt sich an einem freiliegenden Stück Faseroptikkabel fest. Die medizinische Station, wo er aufgewacht war, Betten, Fugentanks, Intensivstation – das meiste war durch den Riss in der Hülle des Spin-Moduls hinausgezogen worden. Spierarmschacht, Fahrstuhlkabine, Leichen auf der Treppe. Keine Waffen. Die meisten Leichen waren durch die Kanisterschussexplosionen oder den plötzlichen Druckverlust entblößt worden. Die Fahrstuhlkabel? Nein, zu lang, unmöglich ohne Werkzeug zu durchtrennen. Werkzeug? Er hatte keines gesehen. Die medizinischen Büros im Flur hinter dem Hauptschacht waren aufgerissen. Medizinische Untersuchungszimmer, MRI-Tanks und CPD-Räume standen offen wie geplünderte Sarkophage. Mindestens ein Operationssaal war intakt, das Innere jedoch ein Irrgarten verstreuter Instrumente und frei schwebender Kabel. Das Solarium war entleert worden, als die Bullaugen nach außen explodiert waren. Patientenzimmer. Ärztezimmer. Vorratskammern, Korridore und unidentifizierbare Kabuffs. Leichen, Leichen, Leichen.

    Kassad hing noch einen Moment am Kabel, orientierte sich im kreisenden Labyrinth von Licht und Schatten und stieß sich dann ab.
    Er hatte auf zehn Minuten gehofft. Er bekam nicht einmal acht. Er wusste, die Ousters würden methodisch und zielstrebig vorgehen, hatte aber unterschätzt, wie gut sie in Nullschwerkraft zurechtkamen. Er setzte sein Leben darauf, dass sie in Zweiergruppen kommen würden – die grundsätzliche

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