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Die im Dunkeln

Die im Dunkeln

Titel: Die im Dunkeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ross Thomas
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neben der Wisconsin Avenue in Georgetown. Da Winfield über zwanzig Minuten gebraucht hatte, um einen Parkplatz zu finden, war es fast 19.15 Uhr, als er mit dem rechten Daumen die Klingel drückte. In der linken Hand hielt er eine braune Papiertüte mit einer Flasche J&B-Whisky.
    Die Tür öffnete sich, so weit die kurze Kette reichte, und eine große, schlanke, hübsche Frau Mitte Dreißig starrte ihn mit großen grauen Augen an, die wie in Trauer wirkten. Ehe Winfield etwas sagen konnte, sagte die Frau: »Ich soll dir von ihm ausrichten, er hat sich’s anders überlegt. Er sagt, er will dich nicht sehen.«
    »Wie geht’s dir so, Shawnee?« sagte Winfield.
    »Beschissen. Und selbst?«
    »War schon schlechter. Darf ich reinkommen?«
    »Er will dich nicht sehen.«
    »Vielleicht kann ich ihn überreden.«
    Sie zuckte mit den Schultern, schloß die Tür lange genug, um die Kette auszuhaken, öffnete sie wieder. Winfield trat in eine sehr kleine, nicht ganz quadratische Diele, deren einzige Dekorationen, abgesehen von der hübschen Frau in alten Jeans und einem weißen Herrenhemd, ein brauner, metallener Hutständer, der wie Regierungseigentum aussah, und ein Farbfoto mit Widmung von Ronald Reagan waren. Winfield erinnerte sich an den Wortlaut der Widmung: »Für Hank Viar, mit Dankbarkeit und Bewunderung.«
    Winfield nahm den Hut ab, reichte der Frau, die er Shawnee nannte, die Papiertüte mit dem Schnaps, zog den Kamelhaarmantel aus und hängte ihn und den Borsalino an den entliehenen oder gestohlenen Hutständer. Unmittelbar dahinter war die schmale steile Treppe; er erinnerte sich, daß sie zu zwei Schlafzimmern und einem Bad führte. Aus irgendeinem Grund – Alter, wie er annahm – sah die Treppe steiler aus, als er sie beim letzten Mal, vor sieben Jahren, empfunden hatte.
    Winfield wandte sich wieder der Frau zu, die Arm und Hand mit der Schnapstüte an ihrer linken Seite herabhängen ließ, fast als ob sie sie vergessen hätte. »Wie geht’s – uh – deinem Mann, Shawnee?« fragte Winfield, der sich an das Gesicht, wenn auch nicht an den Namen eines großen jungen Mannes mit merkwürdig sanften Zügen und einer Masse dunklen Kraushaars erinnerte.
    »Er hat Aids gekriegt und ist gestorben«, sagte sie.
    Statt etwas über Kummer und Mitleid zu sagen, legte Winfield seine rechte Hand leicht auf ihre linke Schulter. Sie blicktehinab auf die Hand mit einem Ausdruck, der wie Überraschung wirkte, dann auf zu Winfield. »Er meint, ich hätte es jetzt«, sagte sie.
    »Hank?«
    Sie nickte. »Er glaubt, Aids ist Teil von einem besonderen Fluch Gottes über die Eltern bestimmter Rumtreiber. Der Rest des Fluchs besteht daraus, daß diese Rumtreiber ewig im Haus ihrer Eltern wohnen bleiben. Deshalb laß ich mich jeden Monat testen, und die Ergebnisse sind immer negativ. Aber er sagt, die Testergebnisse sehen aus wie Fälschungen, und läßt mich immer nur eine Tasse, ein Glas, einen Teller und einen Satz Messergabellöffel benutzen. Inzwischen ist er wirklich ziemlich durchgeknallt.«
    Sie schüttelte jäh zweimal den Kopf, als ob sie ihn von etwas freimachen wollte. Die Bewegungen ließen ihr langes kastanienrotes Haar wirbeln. Winfield tätschelte ihr die Schulter und zog die Hand zurück, eben als sie sagte: »Ach zum Teufel mit Daddy. Wart im Wohnzimmer; ich sag ihm, daß du nicht gehen willst, ehe er runterkommt.«
    »Er ist nicht bettlägerig, oder?«
    »Nein, aber er hockt oft lang oben im vorderen Schlafzimmer und beobachtet die Straße. Ich weiß nicht, mit wem er da rechnet. Vielleicht eine Delegation von den Kurden, die er vor Jahren mit über den Tisch gezogen hat.«
    Sie gab ihm die Tüte mit dem Whisky zurück und ging langsam die Treppe hinauf. Der General betrachtete sie einen Moment, wandte sich dann ab und ging zum Wohnzimmer; dabei fragte er sich, ob es wohl noch immer mit den Reliquien und Überbleibseln der letzten vier Jahrzehnte vollgestopft sein würde.

11. Kapitel
    Das Wohnzimmer enthielt fünf Erinnerungsstücke an die schlichte skandinavische Moderne der 60er. Reichlich Chrom, Glas und Leder vertraten die 70er, und die 80er machten sich bemerkbar durch drei biegsame Stehlampen, die über Sesseln schwebten, als ob sie gleich niederstoßen wollten. Das einzige Artefakt aus den 90ern war ein neuer Sony-Fernseher mit 70er Schirm. Auf dem nahen Recorder lagen vier grellverpackte Leihkassetten, lauter Pornographie. Winfield las die Titel, als Henry Viar ins Zimmer kam und sagte: »Willst du

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