Die in der Hölle sind immer die anderen
ich wirklich geliebt hatte. Schreckliche, absurde Gedanken und Wünsche liefen noch Monate, nachdem sie Florian gefunden hatten, wie Leuchtreklamen durch meinen Kopf: Wenn er doch nur schwer verletzt wäre, schwerstens behindert, krank, mißbraucht, geschändet, was auch immer, scheißegal, aber lebendig, nur nicht tot. Alles, alles hätte ich getan, um den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen und ihn glücklich zu machen. Mit Freuden hätte ich jetzt alles drangegeben, woran mein Herz jemals gehangen hatte: Karriere, Geld, Auto, Haus, Klamotten, Schmuck, die ganze Wohlstands-Scheiße, die mich nicht im mindesten glücklich gemacht hatte. Alles war mir egal, wenn nur Florian noch leben würde. Verzweiflung, Niedergeschlagenheit, Trauer und rasende Wut wechselten sich in meinem Inneren ab wie die Wetter im Gebirge. Warum wir, verdammt noch mal, fragte ich mich immer wieder. Was haben wir denn getan, daß wir so bestraft werden? Was hat Florian getan, daß er so sterben mußte?
Michael und ich klammerten uns aneinander wie zwei Ertrinkende. Jeder hoffte, daß der andere ihn retten würde, während doch jeder den anderen weiter hinunterzog. Es gab Tage, da machten wir uns selbst Vorwürfe; an anderen Tagen gaben wir uns gegenseitig die Schuld an Florians Tod.
Ohne Schirra und ohne den Sportmediziner aus Ludwigshafen, der Florian so oft operiert hatte, hätten wir diese Zeit nicht überstanden. Christian Schirra besuchte uns jede Woche und hielt uns über die Untersuchung auf dem Laufenden. Dr. Hartwig aus Ludwigshafen wußte alles aus der Zeitung, setzte sich ins Auto und zog bei uns ein. Er kochte und kaufte ein, ging zu Behörden und zur Polizei, er verhandelte mit der Friedhofsverwaltung und mit dem Bestattungsunternehmer. Hartwig hätte nicht trauriger sein können, wenn Florian sein eigener Sohn gewesen wäre.
***
Wir haben Florian am neunundzwanzigsten Dezember 1992 beerdigt. Es war ein Dienstag. Mit einem Angestellten der Friedhofsverwaltung war ich zuvor in jenen Teil des Friedhofs gegangen, wo die Kinder liegen. Nie zuvor war ich in dieser Ecke gewesen. Ganz weit hinten, an der Mauer unter einer alten Linde, war ein kleines Eckgrab frei. Der Friedhofsbedienstete sah mich fragend an. Alte und neue Gräber von Babys, Kleinkindern und Teenagern zogen sich in einer Reihe an der Mauer entlang. Auf den älteren Grabsteinen waren sepiafarbene Bilder auf Porzellanovalen angebracht. Auf den jüngeren Gräbern lagen Plüschtiere, Spielzeugautos, Dreiräder, sogar eine kleine Rutsche stand auf einem. „Ja“, sagte ich schließlich, „hier unter der Linde.“
Ich bin froh, daß wir dieses schöne Grab unter einem alten Baum in dieser stillen Ecke gefunden haben. In den Jahren danach gingen Michael und ich fast jeden Tag auf den Friedhof, und wir waren immer über die Abgeschiedenheit und die kühle Ruhe dieses Fleckchens Erde froh. Ich weiß, daß das bescheuert klingt, und es gibt Leute, die uns das ins Gesicht gesagt haben: Was für einen Sinn hat das schönste Grab der Welt, wenn das, was man am meisten geliebt hat, tot da drinnen liegt?
Aber wer so etwas sagt, der weiß nicht, daß wir weiterleben mußten. Und wer weiterleben muß, greift begierig nach jedem Strohhalm, der ihm Trost bringt.
Die Beerdigung wurde eine große Angelegenheit. Das ganze Saarland war vertreten: Politiker, Polizisten, der Ministerpräsident, der Oberbürgermeister, der Bischof, Mediziner, Journalisten, Gesellschaftsgrößen und die paar Leute, die in der ewig subventionierten Miniwirtschaft des Saarlandes eine Rolle spielen. Sie alle und einige hundert andere kamen, um sich von einem kleinen Jungen zu verabschieden, den keiner von ihnen gekannt hatte. Florians Schulklasse war vollzählig mit schwarzen Armbinden, jeder mit Rose und Kerze in der Hand, vertreten.
Der Friedhof war schwarz vor Menschen. Wellen der Anteilnahme schlugen uns entgegen. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde Florian (9) begraben stand über einem rührenden Artikel genau in der Zeitung, die nichts unversucht gelassen hatte, unser Privatleben durch den Schmutz zu ziehen.
Aber als Florian einige Wochen unter seinem kleinen Holzkreuz und dem Plastikkasten mit seinen Spielsachen lag, da wurden sein Tod und unser Schicksal in der Öffentlichkeit genauso schnell uninteressant, wie sie Monate zuvor über Nacht interessant geworden waren. Nun, da Florian von der Bildfläche verschwunden war, schien die Welt von uns zu erwarten, daß auch wir wieder zur
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