Die in der Hölle sind immer die anderen
nämlich von allen Leuten, denen er jemals ein Auto abgekauft hat, die Adressen aufgeschrieben. Wir haben dadurch schnell herausgefunden, wer der Besitzer war.“
Ich sah Michael entnervt an. Warum spannte Schirra uns denn so auf die Folter?
„Und wer war es?“ fragte Michael.
„Ein Mann aus der Nähe von Leipzig, der aber zum Tatzeitpunkt in Saarbrücken als Küchenhelfer gearbeitet hat. Erinnern Sie sich noch daran, daß die Zeugin Hubig sagte, der Mann auf dem Parkplatz hätte Kochhosen getragen? Küchenhelfer tragen Kochhosen.“
Ich konnte mich jetzt nicht mehr beherrschen. Ich riß Michael den Hörer aus der Hand.
„Wie heißt der Mann? Hat er gestanden? Ist er der Täter?“
Schirra schwieg lange.
„Ich darf Ihnen das eigentlich gar nicht sagen, aber persönlich bin davon überzeugt, daß er der Täter ist. Das Problem ist nur: Er hat ein Alibi für den fraglichen Tag.“
Ich setzte mich hin und fühlte, wie sich mir der Hals zuschnürte. Ich unterdrückte das Bedürfnis zu weinen mit aller Kraft. Michael nahm den Hörer wieder in die Hand. Einen Moment lang hörte ich wieder die Stimme eines Mannes, der es gewohnt gewesen war, um sein Recht zu kämpfen.
„Wenn Sie uns nichts Besseres zu berichten haben“, sagte er zu Schirra, „dann brauchen Sie hier so schnell nicht wieder anzurufen“, und legte auf.
Wie viele solche Situationen hat es seit Florians Tod in unserem Leben gegeben. Eine Hilflosigkeit ohnegleichen ergriff immer mehr Besitz von uns. Die geringste Enttäuschung, jede für einen normalen, gesunden Menschen vollkommen verständliche Schwierigkeit stürzte uns in tiefe Verzweiflung. Dumpf, stumm, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, saßen wir dann da und starrten irgendwohin. Jahrelang konnte ich keine Zeitung mehr lesen. Schon nach fünf Sätzen verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen. Ich konnte mich so wenig auf den Inhalt eines Artikels konzentrieren, daß ich am Ende des Abschnitts den Anfang schon wieder vergessen hatte. An Bücherlesen war gar nicht zu denken. In der Zeit des Prozesses hatten wir beide die größten Schwierigkeiten, die Schriftsätze von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu verstehen.
Damals begann unsere Phase des totalen Autismus. Michael und ich wurden zu kindhaften Erwachsenen, die mit keinem mehr reden konnten und zu denen niemand mehr durchdrang. Jahrelang drehten wir uns in unserer winzigen, dunklen, unglücklichen Welt um unsere eigene Achse, unfähig, aus dem Zirkel unserer Wut und Trauer auszubrechen. Mitten in Deutschland, einem Staat, in dem angeblich Recht und Ordnung herrschen, in dem Menschen lachen, arbeiten, glücklich oder auch nicht so glücklich sind, auf jeden Fall aber Probleme haben, die sich irgendwie lösen lassen, lebten wir auf unserem privaten Archipel Gulag in einem Gefangenenlager, das nur für uns errichtet worden war, weit draußen vor den Toren des Gesetzes, die man, wie es bei Kafka irgendwo heißt, nach unserem Tode für immer schließen wird.
Und der Mensch, der uns in diese Hölle gestoßen hatte, lief immer noch frei herum; freute sich seines Lebens; prahlte vielleicht mit dem Mord an Florian; sah sich Filme im Kino an; ging mit Freunden zum Essen, denn auch solche Menschen haben Freunde; vögelte irgend jemanden, denn auch solche Menschen finden jemanden, der sich von ihnen vögeln läßt; buchte Urlaubsreisen und war genauso glücklich und unglücklich wie es jeder andere war, der niemanden mißbraucht und ermordet hatte. Und vielleicht plante er schon den nächsten Mord, vielleicht plante er ihn aber auch nicht, vielleicht überkam es ihn nur, vielleicht erwachte irgendwann wieder das Tier in ihm - und dann würde er wieder losziehen wie ein Schakal und auf die Suche nach einem Opfer gehen; und genau das, was Florian passiert war, würde sich wiederholen.
***
Ich weiß heute, daß wir Christian Schirra damals Unrecht getan haben. Später, nach dem Prozeß, wollte ich mich dafür bei ihm entschuldigen, aber er unterbrach mich im ersten Satz: „Ich bin Ihnen wegen gar nichts böse“, sagte er, „kein Mensch in Ihrer Situation kann sich immer unter Kontrolle haben.“
Drei Wochen nachdem Michael wutentbrannt den Hörer aufgelegt hatte, kam Schirra nach der Arbeit bei uns vorbei und lud sich auf eine Tasse Tee ein. Wie immer, wenn er etwas wirklich Wichtiges zu sagen hatte, kam er nicht sofort auf das Thema zu sprechen, sondern quatschte erst einmal eine halbe Stunde über belanglose Sachen. Ich habe
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