Die indische Erbschaft
begleitet. Ja, wenn es Paris gewesen wäre, wo er einen Teil des Krieges als Zahlmeister verbracht hatte, dann hätten ihn keine zehn Pferde in seinem Büro gehalten. Aber London war in seiner Erinnerung ein Platz mit kalten Hotelhallen, feuchten Betten, unfreundlichen Zimmermädchen und zähem Fleisch.
Auch der Schneider, den Oskar Vollrath ihm empfohlen hatte, tat für Wilhelm Ströndle sein Bestes. Nun, es war nicht schwer, für ihn zu arbeiten. Bis auf den kleinen Bauchansatz und die leichte Wölbung des Rückens hatte er immer noch eine gute Figur. Aber als er dann daheim läutete, mit einer neuen Hornbrille vor den Augen, den grauen Homburg ein wenig schief über den silbernen Schläfen, im eleganten hechtgrauen Fresko-Zweireiher, den dunkelgrauen einreihigen Mantel mit dem Seidenfutter nach außen überm Arm, das Paket mit den neuen schwarzen Schuhen am Finger baumelnd, und Christa fragte, ob Herr Ströndle daheim zu sprechen sei, da knickste sie bedauernd und prallte zurück, als er den Hut abnahm und zu lachen begann.
Und genau wie Christa ging es Martha und den beiden anderen Kindern, als er das Spiel in der Küche noch einmal wiederholte. Es war eine unglaubliche Verwandlung, an der des Schneiders Anteil merkwürdigerweise fast der geringste war. Vor vier Wochen noch hätte er aus Wilhelm Ströndle nicht mehr machen können als eben einen Kontoristen im Sonntagsanzug. Kein neu ausstaffierter, sondern ein neuer Mensch stand vor ihnen, den man für einen seriösen Bankier, Großkaufmann oder Industriellen halten konnte. Wenn er jetzt nach England reiste, dann ging er in der Haltung jenes preußischen Gesandten nach London, dessen mangelndes Selbstbewußtsein Friedrich II. mit den Worten aufgebügelt hatte, er möge in England immer daran denken, hinter ihm marschierten hunderttausend Mann. — Zweihundert Millionen im Rücken waren keine geringere Streitmacht.
„Na, was sagt ihr? Hat der Schneider seine Sache gut gemacht?“ Er drehte sich einmal um seine Achse und ließ ihnen Zeit, die Sprache wiederzufinden. „Und die alten Schuhe nehme ich vorsichtshalber mit, obwohl ich mir die neuen eine halbe Nummer zu groß genommen habe.“
„Mein Gott, Wilhelm...!“ seufzte Martha schließlich und konnte den Blick nicht von ihm losreißen. Und in der Anrede „Wilhelm“, die sie sonst nur im Zorn gebrauchte, seit sie ihren Willi kennengelernt hatte, lag alles drin, was sie sagen wollte und nicht auszudrücken vermochte. Sie spürte das Herz bis in den Hals hinauf und preßte die Hand gegen die Brust. Er hatte doch schon früher immer’ so stolz seine neuen Anzüge vorgeführt, wenn es auch selten genug geschehen war, aber deshalb war er ihr doch niemals so fremd und entrückt erschienen. Jetzt hatte sie das Empfinden, als erweitere sich das Zimmer ins Unendliche und als schrumpfe sie selber in diesem sich mit rasender Geschwindigkeit blähenden Raum zu einer mikroskopischen Winzigkeit zusammen, während er mit der Dehnung der Entfernungen und Proportionen wuchs und wuchs und sich so weit von ihr entfernte, daß kein Schrei aus ihrem Munde und keine Anstrengung, sich ihm bemerkbar zu machen, ihn erreichen konnten. Sein Gesicht und die Gesichter der Kinder zerflossen vor ihren Augen, und plötzlich begannen sich die Wände zu biegen und zu drehen, in immer schnellerem Wirbel...
„Martha!“ Im letzten Augenblick sprang er hinzu und fing sie in seinen Armen auf. „Um Gottes willen, sie ist ohnmächtig!“
Werner sprang auf und rannte zur Wasserleitung, und Charlotte half ihrem Vater, Martha auf das Küchensofa zu betten. Sie war so graublaß wie das feuchte Handtuch, das ihr Werner auf die Stirn drückte. Der Zustand dauerte nur Sekunden. Wilhelm Ströndle kniete in den neuen Hosen neben ihrem Lager und starrte ihr angstvoll ins Gesicht: „Martha, Liebste, was war das nur? Du hast doch noch nie etwas mit dem Herzen zu tun gehabt...“
Sie atmete flach und hastig und versuchte zu lächeln: „Nichts, Willi...“, flüsterte sie und fügte so leise, daß nur er es verstehen konnte, hinzu: „Ich sagte dir doch, daß sich bei mir das Alter bemerkbar macht. Ich habe das jetzt manchmal, daß sich mir alles zu drehen anfängt — nur ich habe es noch nie so stark gehabt wie heute.“
Sie trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das Werner ihr reichte, und sie sahen aufatmend, daß die Farbe langsam wieder in ihr Gesicht zurückströmte.
Wilhelm Ströndle nahm die neue, fremde Brille ab und wischte sich den
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