Die innere Freiheit des Alterns
Zeichnung merkte sie wie auch ich, dass neben Stuhl und darüber hängendem Fallbeil sehr viel freier Raum auf dem Bild verblieben war, Freiraum also; keinerlei Wächter und Folterknechte waren anwesend. So fragten wir uns: Warum nur muss sie sich jetzt, wohlgemerkt jetzt, da die damals quälende Situation doch weit hinter ihr liegt, ausgerechnet direkt unter dieses Fallbeil setzen? Nichts zwingt sie mehr dazu. Das Bild veranlasste die Zeichnerin, in Zukunft darauf zu achten, dass sie sich nicht mehr – auch nicht unter dem Zwang der Erinnerung – unter das Fallbeil setzt, das in Wirklichkeit gar nicht mehr in Funktion ist und neben dem so viel Freiraum sich auftut.
Gewiss, solche Denk- und Handlungsfreiheit setzt voraus, dass wir nicht mehr völlig mit dem Trauma von damals verkettet sind. Die meisten unter uns aber sind das auch gar nicht mehr und könnten sich eine »Lebensrückblick-Therapie« (Verena Kast) gönnen, in der sie die schwierige Situation aussprechen, ausführlich erzählen oder auch zum Bild gestalten. Soweit die verletzenden Erlebnisse nicht ganz so gravierend sind wie bei dem klassischen »posttraumatischen Belastungssyndrom«, wie Fachleute das nennen, was natürlich therapeutischer Behandlung bedarf, können wir auch durch bewussten Umgang mit unserem Lebensrückblick, durch Erzählen und Imaginieren mit einer Klärung des Erlebten und vielleicht sogar mit einer möglichen Aussöhnung mit den beteiligten Menschen rechnen.
Gehen wir einmal davon aus, dass eine solche Aussöhnung vor allem uns selbst etwas brächte und sehr viel bewirkte, nämlich unsere Befreiung aus der Opferrolle und damit eine Reinigung unseres Erinnerungsraums. Warten wir nicht darauf, dass die betreffenden Menschen, die uns getroffen, vielleicht sogar schwer verletzt haben, kommen und von sich aus Versöhnung suchen (wenn sie es doch tun, sollten wir die Chance, die darin auch für uns selber liegt, erkennen).
Wichtig ist vor allem, dass wir selbst innerlich wieder frei werden, dass wir jenen Konflikt, worum immer es dabei ging, dorthin stellen, abstellen, wohin er jetzt als etwas Vergangenes gehört. Auch mit Hilfe der Imagination kann man solch einen Abstellraum oder gar einen abschließbaren Tresor für solche belastende Erlebnisse hervorbringen, einfach, damit sie nicht länger allzu großen Raum in uns einnehmen und unseren inneren Raum der Erinnerungen belasten und vergiften.
Nur durch Versöhnung mit dem Geschehenen gewinnen wir unsere Handlungsfreiheit und unsere innere Freiheit wieder und nur dadurch lösen wir uns gänzlich ab von den damaligen »Tätern« – wer immer sie seien. Falls es nicht möglich sein sollte, sich von beiden Seiten her – meist sind beide Seiten irgendwie am verletzenden Kontakt beteiligt gewesen – einanderwieder anzunähern, dann gewönne doch zumindest der oder die eine, die sich innerlich annähert und vielleicht sogar versöhnt, eine befriedete Erinnerung und einen zukunftsfähigen Kontakt wieder. Dies wäre ein besonders wohltuender Aspekt im Alter.
Zur Zeitgeschichte, an der unsere Generation teilhat, die uns prägte, gehören natürlich auch die größeren zeitgeschichtlichen Strömungen und Auseinandersetzungen, an denen wir partizipierten, und keineswegs nur das Dritte Reich und der Krieg, der unsere Kindheit prägte. Ich möchte nur die Strömungen erwähnen, von denen ich selbst stärker berührt wurde, für andere mögen es andere sein.
Für einen großen Teil der infrage kommenden Jahrgänge, die jetzt in ihre Sechziger und Siebziger eintreten, war die Außerparlamentarische Opposition und die ihr nachfolgende sogenannte 68er-Bewegung eine entscheidende Befreiungserfahrung. Sie erschien uns als der Protest gegen die bisher nicht hinterfragte Anpassung und Respektsbezeugung gegenüber Autoritäten wie Lehrern, Professoren, Vorgesetzten und Politikern, zumal viele der uns vorgesetzten Respektspersonen in Deutschland noch eine NS-Vergangenheit mitbrachten. »Und unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«, dieser Spruch, der einem Professorenzug, der zu einer Amtshandlung schritt, damals von aufbegehrenden Studentinnen und Studenten vorangetragen wurde, dürfte als Motto gelten. Die Stichworte »Herrschaftswissen« und »strukturelle Gewalt« von damals sind nicht überholt und längst nicht genügend reflektiert, sondern in vieler Hinsicht nicht eingeholt – sie wurden nur überholt von einem neuen Pragmatismus im Rahmen jener ersten wirtschaftlichen Rezession
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