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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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erkannt zu haben. Das Mädchen war gar nicht real gewesen. Ich hatte mir alles nur eingebildet, sie und auch die anderen Kinder. Meine Fantasie hatte sie in dem Moment heraufbeschworen, als ich mir die Fotos ansah. Und diese plötzliche Dunkelheit kurz vor ihrem Auftauchen? Ein Blackout.
    Diese Kinder waren vor langer Zeit gestorben. Und selbst, wenn sie noch lebten – was für eine alberne Vorstellung, dass sie immer noch genauso aussahen wie zu der Zeit, als die Fotos gemacht wurden! Alles war so schnell passiert, dass ich gar keine Gelegenheit gehabt hatte innezuhalten und mich zu fragen, ob ich vielleicht einer Halluzination hinterherjagte.
    Ich konnte Dr. Golans Erklärung förmlich hören:
Dieses Haus ist für dich ein emotional aufgeladener Ort. Dadurch wurde eine Stressreaktion ausgelöst.
Ja, er war ein Psychogeblubber speiendes Arschloch. Deshalb hatte er aber nicht unrecht.
    Gedemütigt kehrte ich um, ließ den letzten Rest meiner Würde sausen und kroch auf allen vieren zu dem schwachen Lichtschein am Eingang des Tunnels zurück. Als ich hochschaute, fiel mir auf, dass ich diesen Ausblick schon einmal gesehen hatte: auf einem Foto in Martins Museum. Es war von dem Ort, an dem sie den Moorjungen gefunden hatten. Kaum zu glauben, dass die Menschen früher dachten, dieses faulig stinkende Brachland sei das Tor zum Himmel – und so fest davon überzeugt waren, dass ein Kind in meinem Alter dafür freiwillig in den Tod ging. Was für eine traurige, dumme Verschwendung.
    Ich wollte nur noch nach Hause. Die Fotos in dem Keller interessierten mich nicht mehr, und ich hatte die Nase voll von Rätseln und Geheimnissen und letzten Worten. Der Obsession meines Großvaters zu folgen hatte nicht dazu geführt, dass ich mich besser fühlte, sondern schlechter. Es war an der Zeit, loszulassen.

    Am Eingang streckte ich mich und trat hinaus. Die Sonne blendete mich. Ich schirmte die Augen ab und blinzelte durch meine Finger auf eine Welt, die mir völlig unbekannt schien. Es war dasselbe Moor und derselbe Pfad. Alles war wie zuvor, aber zum ersten Mal seit meiner Ankunft war alles in strahlenden Sonnenschein getaucht. Der Himmel war knallblau. Keine Spur von dem wabernden Nebel. Es war richtig warm, wie an den Hundstagen des Sommers. Meine Güte, das Wetter wechselt hier aber verdammt schnell, dachte ich.
    Auf dem Pfad versuchte ich, das kribbelnde Gefühl von Matsch in meinen Socken zu ignorieren, und stapfte zurück in Richtung Dorf. Sonderbarerweise war der Pfad nicht mehr matschig – als wäre er innerhalb von Minuten ausgetrocknet. Überall lagen grapefruitgroße Tierexkremente, denen ich ständig ausweichen musste. Wie konnte es sein, dass mir das zuvor nicht aufgefallen war? War ich den ganzen Morgen über in einem psychischen Dämmerzustand gewesen? Oder befand ich mich jetzt in einem?
    Ich blickte nicht von dem Schachbrettmuster aus Tierkacke hoch, bis ich den Hügelkamm überquert hatte und ins Tal hinunterstieg. Da sah ich, wo dieser ganze Mist herkam. Wo morgens noch ein Bataillon von Traktoren auf den Schotterwegen unterwegs gewesen war, schleppten jetzt Karren ganze Wagenladungen voller Fisch und Torfstücke in Richtung Hafen oder kamen von dort zurück. Die Karren wurden von Pferden und Eseln gezogen. Das Klipp-Klapp der Hufe hatte das Brummen der Motoren ersetzt.
    Auch das Summen der Dieselgeneratoren war verstummt. War dem Ort in den wenigen Stunden meiner Abwesenheit das Benzin ausgegangen? Und wo hatten die Dorfbewohner die Tiere versteckt gehalten?
    Und warum sahen mich alle so komisch an? Jeder, an dem ich vorbeikam, unterbrach seine Arbeit und gaffte mir nach. Ich muss so verrückt aussehen, wie ich mich fühle, dachte ich und sah an mir hinunter. Von der Hüfte an abwärts war ich schlammverschmutzt und von der Taille an aufwärts mit Gips bestäubt. Ich zog den Kopf ein und ging, so schnell ich konnte, zum Pub, wo ich ins Dämmerlicht abtauchen konnte, bis Dad zum Mittagessen heimkehrte. Sobald er da war, würde ich ihm mitteilen, dass ich so schnell wie möglich nach Hause wollte. Falls er zögerte, würde ich ihm sagen, dass ich auf der Insel Halluzinationen bekäme. Dann waren wir ganz sicher am nächsten Tag auf der Fähre.
    Im Hole war die übliche Truppe angetrunkener Männer versammelt, die sich über Biergläser mit Schaumkronen beugten. Die alten Tische und die schmuddelige Ausstattung waren mir schon richtig vertraut geworden. Als ich jedoch auf die Treppe zusteuerte, blaffte eine

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