Die Insel der besonderen Kinder
als das Schreien der Männer: Motoren. Dutzende, dem Lärm nach zu urteilen.
»O Millard, das ist genial!«, rief Emma.
Er schniefte. »Und du hast gesagt, meine Studien seien Zeitverschwendung.«
Emma legte die Hand auf den Türknauf und wandte sich mir zu. »Halt dich an meinem Arm fest. Nicht rennen. Tu so, als wäre alles in bester Ordnung.« Sie steckte das Messer fort, versicherte mir jedoch, dass ich es wiedersehen würde, wenn ich versuchte zu fliehen – kurz bevor sie mich damit töten würde.
»Woher weiß ich, dass du das nicht sowieso tust?«
Sie überlegte einen Moment lang. »Das weißt du nicht.« Und dann stieß sie die Tür auf.
* * *
Draußen auf der Straße drängten sich die Menschen, nicht nur die Männer aus dem Pub, die ich eine Ecke weiter entdeckte, sondern Ladenbesitzer mit grimmigen Gesichtern, Frauen und Kutscher mit ihren Karren. Alle hatten ihre Arbeit unterbrochen, standen mitten auf der Straße und blickten zum Himmel. Da, nicht weit über uns, flog eine Schwadron Kampfflugzeuge der Nazis in perfekter Formation vorüber. Ich hatte Fotos solcher Flugzeuge in Martins Museum gesehen, in einem Schaukasten mit dem Titel: »Cairnholm im Belagerungszustand«. Wie sonderbar muss es sein, dachte ich, sich an einem bislang ereignislosen Nachmittag plötzlich im Schatten feindlicher Flugzeuge zu befinden, die jeden Moment tödliche Bomben abwerfen konnten.
So beiläufig wie möglich überquerten wir die Straße. Emma hielt meinen Arm umklammert. Wir hatten es fast bis auf die andere Straßenseite geschafft, als die Männer uns entdeckten. Ich hörte einen Aufschrei. Als wir uns umwandten, sahen wir sie in unsere Richtung rennen.
Wir liefen los. Die Gasse war schmal und von Ställen gesäumt. Als wir etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, hörte ich Millard sagen: »Ich bleibe zurück und stelle ihnen ein Bein! Wir treffen uns in genau fünfeinhalb Minuten hinter dem Pub!«
Er verlangsamte das Tempo. Als wir das Ende der Gasse erreicht hatten, hielt Emma mich zurück. Wir blickten uns um und sahen ein Seil auf Knöchelhöhe über dem Schotter schweben. Als die Meute dort ankam, spannte es sich straff. Die Männer stürzten darüber und landeten in einem wirren Haufen strampelnder Gliedmaßen im Matsch. Emma johlte vor Begeisterung, und ich war mir beinahe sicher, dass ich Millard lachen hörte.
Wir liefen weiter. Ich wunderte mich, dass sich Emma mit Millard beim Priest Hole treffen wollte, schließlich lag es in Richtung Hafen und nicht in Richtung des Hauses. Aber da ich mir auch nicht erklären konnte, woher Millard den genauen Zeitpunkt gewusst hatte, an dem die Flugzeuge am Himmel auftauchen würden, sparte ich mir die Mühe, zu fragen. Noch perplexer war ich, als Emma mich geradewegs zur Tür hineinstieß.
Bis auf den Wirt war niemand in der Gaststube. Ich wandte mich ab und verbarg mein Gesicht.
»Wirt!«, rief Emma. »Wann macht der Laden hier auf? Ich bin durstig wie eine verdammte Meerjungfrau!«
Er lachte. »Bei mir werden keine kleinen Mädchen bedient.«
»Vergiss es!«, knurrte sie und schlug mit der Hand auf die Theke. »Schenk mir einen Vierfachen von deinem stärksten Whiskey ein. Und nicht dieses verwässerte Zeug, das du sonst servierst!«
Was sollte das? Wollte sie etwa Millard und seine Nummer mit dem gespannten Seil überbieten?
Der Wirt beugte sich über die Theke. »Du willst also das unverdünnte Zeug, ja?« Er grinste. »Lass das nur nicht deine Mom und deinen Dad hören, sonst habe ich den Priester
und
den Konstabler im Nacken.« Er schnappte sich eine Flasche mit dunklem, gefährlich aussehendem Inhalt und schenkte ihr ein Becherglas voll. »Und was ist mit deinem Freund? Der ist vermutlich schon breit wie ein Priester, stimmt’s?«
Ich tat so, als betrachtete ich eingehend den Kamin.
»Ist ein ganz Schüchterner, was?«, fuhr der Wirt fort. »Wo kommt er her?«
»Er behauptet, er sei aus der Zukunft«, antwortete Emma. »Ich sage, dass er so verrückt ist wie eine ganze Kiste voller Wiesel.«
Ein sonderbarer Ausdruck legte sich auf das Gesicht des Wirts. »Er sagt, er sei was?« Und dann musste er mich erkannt haben, denn er stieß einen Schrei aus, knallte die Whiskeyflasche auf den Tresen und wandte sich in meine Richtung. Ich war im Begriff loszurennen, aber noch bevor der Wirt hinter der Bar hervorgekommen war, nahm Emma den Drink und verschüttete die braune Flüssigkeit auf der Theke. Und dann tat sie etwas Verblüffendes. Sie
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