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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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hielt ihre Handfläche darüber, und sofort schossen fußhohe Flammen in die Höhe und breiteten sich aus wie eine Wand.
    Der Wirt heulte auf und begann, die Flammen mit einem Handtuch auszuschlagen.
    »Hierher, Gefangener!«, befahl Emma, packte mich am Arm und zog mich zum Kamin. »Los hilf, mir. Hochheben und ziehen!«
    Sie kniete sich hin und zwängte die Finger in eine Ritze auf dem Boden. Ich schob meine Finger neben ihre in den Spalt, und gemeinsam hoben wir eine schmale Klappe, die ein etwa schulterbreites Loch freigab: das Priesterloch. Während sich der Raum mit Rauch füllte und der Wirt versuchte, die Flammen zu löschen, ließen wir uns nacheinander hinab und verschwanden.
    Das Priesterloch war ein enger Schacht, der etwa anderthalb Meter in die Tiefe führte und dann in einen Kriechkeller überging. Dort unten war es stockdunkel. Doch plötzlich erfüllte sanftes, orangefarbenes Licht den Raum. Emma hatte aus ihrer Hand eine Taschenlampe gemacht, eine winzige Flamme, die direkt über ihrer Handfläche zu schweben schien. Ich starrte darauf und vergaß alles andere.
    »Beweg dich!«, blaffte sie mich an und versetzte mir einen Stoß. »Da vorn ist eine Tür.«
    Ich kroch weiter bis ans Ende des Kellers. Dann zwängte sich Emma an mir vorbei, setzte sich auf den Po und trat mit beiden Füßen gegen die Tür. Sie sprang auf. Vor uns schien helles Tageslicht.
    »Da seid ihr ja«, hörte ich Millard sagen, als wir in die Gasse hinauskrochen. »Du konntest dir den Spaß einfach nicht entgehen lassen, he?«
    »Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, entgegnete Emma, obwohl ich ihr anmerkte, wie zufrieden sie mit sich war.
    Millard brachte uns zu einem Pferdekarren, der nur auf uns zu warten schien. Wie kletterten auf die Ladefläche und krochen unter eine Plane. Kurz darauf tauchte ein Mann auf, setzte sich auf den Kutschbock, schnalzte mit den Zügeln, und wir setzten uns ruckelnd in Bewegung.
    Eine Weile lang fuhren wir schweigend. Die sich verändernden Geräusche verrieten mir, dass wir aus dem Dorf hinausgelangten.
    Ich brachte den Mut auf, leise eine Frage zu stellen: »Woher wusstet ihr von dem Wagen? Und von der Plane? Könnt ihr hellsehen oder was?«
    Emma kicherte. »Wohl kaum.«
    »Weil alles gestern passiert ist«, antwortete Millard. »Und vorgestern. So ist das nun mal in einer Zeitschleife, oder etwa nicht?«
    »In einer was?«
    »Er ist aus keiner Zeitschleife«, flüsterte Emma ihm zu. »Ich sage es dir doch die ganze Zeit. Er ist ein Wight.«
    »Das glaube ich nicht. Ein Wight hätte sich niemals lebendig von dir schnappen lassen.«
    »Hört zu«, flüsterte ich. »Ich bin nicht dieses – was du da gesagt hast. Ich bin Jacob.«
    »Wir werden sehen. Und jetzt sei ruhig.« Sie zog die Plane ein wenig zur Seite und gab den Blick auf einen schmalen Streifen vorbeiziehenden blauen Himmels frei.

[home]
    6. Kapitel
    N achdem wir die letzten Cottages hinter uns gelassen hatten, glitten wir leise von dem Karren herunter und überquerten zu Fuß den Hügelkamm in Richtung Wald. Emma ging neben mir, schweigend und grüblerisch. Meinen Arm ließ sie keine Sekunde los. An der anderen Seite ging Millard. Er summte vor sich hin und schoss kleine Steine fort. Ich war nervös und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Ein Teil von mir erwartete etwas Bedeutsames, ein anderer Teil rechnete damit, dass ich jeden Moment aus einem Fiebertraum hochschrak und mich mit dem Gesicht in einer Pfütze aus Spucke auf dem Tisch im Pausenraum von Smart Aid wiederfand. Was für ein sonderbarer Traum, würde ich denken und zu der langweiligen Beschäftigung zurückkehren, die sich mein Leben nannte.
    Aber ich wachte nicht auf. Wir gingen weiter. Neben mir das Mädchen, das in seinen Händen Feuer entfachen konnte, und der unsichtbare Junge. Wir durchquerten den Wald. Der Pfad war breit wie in einem Nationalpark. Dann traten wir hinaus auf eine große Wiese voller blühender Blumen. Dahinter reihte sich ein gepflegtes Beet an das andere. Wir hatten das Haus erreicht.
    Staunend betrachtete ich es – nicht, weil es so scheußlich war, sondern weil es so schön war. Keine Dachschindel fehlte, und keine einzige Fensterscheibe war zerbrochen. Die Türmchen und Schornsteine ragten selbstbewusst in den Himmel. Der Wald, der die Mauern zu verschlingen gedroht hatte, hielt respektvoll Abstand.
    Ich wurde einen Plattenweg entlanggeführt und dann über frisch gestrichene Stufen hinauf zu einer Veranda. Emma schien mich nicht mehr

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