Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
Vom Netzwerk:
Jenseits finden – aber das war zu poetisch. Mein Großvater war ein nüchterner Mensch gewesen, er drückte sich nicht in Metaphern oder Andeutungen aus. Er hatte mir klare Anweisungen gegeben, die er mir nur leider nicht mehr erläutern konnte. »Der Alte Mann«, so erkannte ich jetzt, war die Moorleiche im Museum, und ihr Grab war der Steinhaufen. Und heute früh war ich in dieses Grab hineingegangen und in einer anderen Zeit wieder herausgetreten: am 3 . September 1940 .
    All das ging mir durch den Kopf, bevor der Raum anfing, sich zu drehen, mir die Knie wegsackten und alles um mich herum schwarz wurde.
    Als ich aufwachte, lag ich auf dem Boden und war mit den Füßen an den Kochherd gefesselt. Das Mädchen ging unruhig auf und ab und schien Selbstgespräche zu führen. Ich hielt die Augen geschlossen und lauschte.
    »Er
muss
ein Wight sein«, sagte sie. »Warum sollte er sonst in dem alten Haus herumschnüffeln wie ein Einbrecher?«
    »Ich habe nicht die leiseste Idee«, antwortete eine männliche Stimme. »Aber er offenbar auch nicht.« Sie führte also doch keine Selbstgespräche. Von meinem Platz aus konnte ich den jungen Mann, mit dem sie sprach, jedoch nicht sehen. »Du sagst, er hat nicht einmal gemerkt, dass er in der Spirale war?«
    »Gib dir die Antwort selbst«, sagte sie und zeigte auf mich. »Kannst du dir vorstellen, dass ein Verwandter von Abe so ahnungslos ist?«
    »Aber kannst du dir das bei einem Wight vorstellen?«, entgegnete der junge Mann. Ich reckte vorsichtig den Kopf, vermochte ihn jedoch nicht zu entdecken.
    »Ich kann mir vorstellen, dass ein Wight
so tut
«, antwortete das Mädchen.
    Der Hund gähnte und streckte sich. Dann kam er zu mir getrottet und leckte mir durchs Gesicht. Ich kniff die Augen zu und versuchte, es zu ignorieren, aber er sabberte mich mit seiner riesigen Zunge voll, bis ich mich schließlich mühsam aufsetzen musste, um ihn loszuwerden.
    »Sieh einer an, er ist aufgewacht«, sagte das Mädchen. Sie klatschte in die Hände und applaudierte mir ironisch. »Tolle Vorstellung, die du da geboten hast. Dein Ohnmachtsanfall hat mir gefallen. Dem Theater ist ein guter Schauspieler verlorengegangen, als du dich entschieden hast, dich stattdessen dem Morden und dem Kannibalismus hinzugeben.«
    Ich öffnete den Mund, um meine Unschuld zu beteuern – da kam eine Tasse auf mich zugeschwebt.
    »Nimm einen Schluck Wasser«, sagte der junge Mann. »Wir können dich schlecht sterben lassen, bevor wir dich zur Headmistress gebracht haben, oder?«
    Seine Stimme schien aus dem leeren Raum zu kommen. Ich reckte mich nach der Tasse, und als mein kleiner Finger eine unsichtbare Hand berührte, hätte ich sie beinahe fallen lassen.
    »Er ist ungeschickt«, sagte der junge Mann.
    »Du bist unsichtbar«, murmelte ich.
    »In der Tat, Millard Nullings, stets zu Diensten.«
    »Verrate ihm doch nicht deinen Namen«, schimpfte das Mädchen.
    »Und das ist Emma«, fuhr er fort. »Sie ist ein bisschen paranoid, wie du sicher schon bemerkt hast.«
    Emma starrte ihn wütend an – oder die Stelle, an der er sich befinden musste –, sagte jedoch nichts. Die Tasse zitterte in meiner Hand. Ich wollte zu einem neuen linkischen Versuch ansetzen, meine Situation zu erklären, aber da ertönte draußen eine wütende Stimme.
    »Still!«, zischte Emma. Millards Schritte bewegten sich zum Fenster, und die Läden wurden einen Spalt geöffnet.
    »Was ist los?«, fragte Emma.
    »Sie durchsuchen die Häuser«, antwortete er. »Wir müssen hier fort.«
    »Aber wir können jetzt nicht raus!«
    »Vielleicht doch«, antwortete er. »Um sicherzugehen, lass mich kurz in meinem Buch nachschauen.« Die Läden schlossen sich wieder, und ich sah, dass ein dünnes, ledergebundenes Notizbuch vom Tisch hochschwebte und aufklappte. Millard summte, während er offenbar die Seiten überflog. Kurz darauf klappte er das Buch wieder zu.
    »Wie ich es mir dachte«, sagte er. »Wir müssen nur zwei Minuten warten, dann können wir einfach durch die Vordertür hinausgehen.«
    »Bist du verrückt?«, flüsterte Emma. »Dann stürzen sich diese Primitivlinge mit ihren Keulen auf uns!«
    »Nicht, wenn wir weniger interessant sind als das, was gleich passieren wird«, sagte er. »Ich versichere dir, es ist die beste Gelegenheit, die wir in den nächsten Stunden bekommen werden.«
    Ich wurde vom Herd losgebunden und zur Tür gebracht, wo wir uns hinhockten und warteten. Dann ertönte draußen ein Geräusch, das noch viel lauter war

Weitere Kostenlose Bücher