Die Insel der besonderen Kinder
Tasche.
Sie sprang zurück und befahl mir, mich nicht zu bewegen. Dabei hob sie die Schneide und hielt sie dicht über meine Nasenwurzel.
»Es ist nur ein Brief. Beruhige dich!«
Sie senkte die Schneide zurück an meine Kehle. Ich zog den Brief und das Foto von Miss Peregrine aus der Tasche und hielt ihr beides hin. »Der Brief ist ein Grund, warum ich hergekommen bin. Mein Großvater hat ihn mir gegeben. Er ist von dem Vogel. So nennt ihr doch eure Heimleiterin, nicht wahr?«
»Das beweist gar nichts«, erwiderte sie, obwohl sie kaum einen Blick darauf geworfen hatte. »Und woher weißt du so verdammt viel über uns?«
»Wie ich schon sagte, mein Großvater –«
Sie schlug mir den Brief aus der Hand. »Ich will kein Wort mehr von diesem Mist hören.« Offenbar hatte ich einen sensiblen Punkt berührt. Sie wurde für einen Moment still, das Gesicht verkniffen, als würde sie überlegen, wie sie meinen Körper am besten loswerden könnte, nachdem sie mich getötet hatte. Bevor sie sich jedoch zu einer Entscheidung durchringen konnte, wurden Schreie am Ende der Gasse laut. Wir sahen die Männer aus dem Pub auf uns zurennen, bewaffnet mit Holzschlägern und Mistgabeln.
»Was soll das? Was hast du angestellt?«
»Du bist nicht die Einzige, die mich umbringen will.«
Sie nahm das Messer von meiner Kehle und drückte es mir stattdessen in die Seite. Dann packte sie mich am Kragen. »Von nun an bist du mein Gefangener. Tu genau, was ich dir sage, oder du wirst es bedauern.«
Ich gab keine Widerworte. Ich wusste nicht, wann meine Überlebenschancen größer waren: wenn ich in den Händen dieses nervösen Mädchens blieb oder von dem geifernden, keulenschwingenden Mob eingeholt würde. Bei ihr hatte ich zumindest die Chance, ein paar Antworten auf meine Fragen zu bekommen.
Sie versetzte mir einen Stoß, und wir rannten eine angrenzende Gasse entlang. Nach der halben Strecke bogen wir ab, duckten uns unter Laken an einer Wäscheleine hindurch und sprangen über einen Hühnerdraht in den Hof eines kleinen Cottage.
»Hier rein«, flüsterte sie und blickte über die Schulter, um sicherzugehen, dass uns niemand beobachtete. Dann stieß sie mich durch eine Tür in eine enge Hütte, in der es nach gebranntem Torf roch. Es war niemand darin, bis auf einen alten Hund, der auf dem Sofa schlief. Er öffnete ein Auge, um uns kurz zu begutachten, und schlief weiter. Wir liefen zu dem Fenster, das auf die Straße rausging, und pressten uns daneben flach an die Wand. Dort standen wir und lauschten. Das Mädchen hielt mit der einen Hand meinen Arm fest und drückte mit der anderen das Messer in meine Seite.
Eine Minute verstrich. Die Stimmen der Männer schienen schwächer und dann wieder lauter zu werden. Es war schwer zu sagen, wo sie sich befanden. Ich sah mich in dem Raum um. Er kam mir selbst für die Verhältnisse auf Cairnholm extrem bescheiden vor. In einer Ecke war ein Stapel handgeflochtener Körbe umgekippt. Ein mit Jute bezogener Polstersessel stand vor einer riesigen, eisernen Kochstelle, die mit Kohlen befeuert wurde. An der Wand gegenüber hing ein Kalender. Es war zu düster, um die Zahlen darauf erkennen zu können, aber allein bei dem Anblick schoss mir ein bizarrer Gedanke durch den Kopf.
»Welches Jahr haben wir?«
Das Mädchen befahl mir, den Mund zu halten.
»Ich meine es ernst«, flüsterte ich.
Sie sah mich einen Moment lang seltsam an. »Ich weiß nicht, was du im Schilde führst, aber geh und sieh selbst nach.« Sie stieß mich in Richtung des Kalenders.
Auf der oberen Hälfte befand sich ein schwarzweißes Foto. Es war an einem tropischen Strand aufgenommen worden. Üppige Mädchen mit Ponyfrisuren in altmodisch wirkenden Badeanzügen lächelten in die Kamera. Darunter stand: »September 1940 .« Die ersten beiden Tage des Monats waren durchgestrichen.
Eine seltsame Benommenheit überkam mich. Ich dachte an all die sonderbaren Dinge, die ich an diesem Morgen gesehen hatte: der plötzliche und unerklärliche Wetterumschwung, der Ort, der plötzlich mit Fremden bevölkert war. Alles um mich herum wirkte altmodisch, obwohl die Dinge an sich neu aussahen.
Der 3 . September 1940 . Aber
wie …
Und dann fielen mir Großvaters letzte Worte ein:
Auf der anderen Seite vom Grab des alten Mannes.
Ich hatte nie herausfinden können, was er damit meinte. Eine Zeitlang hatte ich mich gefragt, ob er damit Geister im Sinn hatte. Da alle Kinder aus seiner Vergangenheit tot waren, konnte ich sie nur im
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