Die Insel der besonderen Kinder
forderte jemand das Mädchen auf. Kurz darauf drängten alle am Tisch Claire dazu, etwas zu essen. Und damit die anderen endlich Ruhe gaben, tat sie es schließlich.
Eine Gänsekeule wurde ihr auf den Teller gelegt. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um, hielt sich mit beiden Händen an den Lehnen fest und beugte sich mit dem Hinterkopf über den Teller. Ich hörte ein leises Schmatzen, und als sie den Kopf wieder hob, fehlte ein großer Bissen in der Keule. Unter ihren Locken verbargen sich Kiefer mit scharfen Zähnen. Plötzlich verstand ich das sonderbare Bild von Claire, das ich in Miss Peregrines Album gesehen hatte. Der Fotograf hatte zwei Aufnahmen nebeneinandergestellt: eine mit dem anmutigen hübschen Gesicht und eine mit den Locken, die ihren Hinterkopf völlig verdeckten.
Claire drehte sich wieder um und verschränkte die Arme. Offenbar ärgerte sie sich darüber, dass sie sich von den anderen Kindern zu dieser demütigenden Demonstration hatte überreden lassen. Während mich die anderen mit Fragen löcherten, saß sie schweigend da. Nachdem Miss Peregrine weitere Fragen über meinen Großvater abgewehrt hatte, wandten sich die Kinder anderen Themen zu. Sie schienen sich besonders dafür zu interessieren, wie das Leben im 21 . Jahrhundert aussah.
»Welche Arten von fliegenden Autos gibt es?«, fragte ein pubertierender Knabe in dunklem Anzug, der ihn aussehen ließ wie den Lehrling eines Bestattungsunternehmers.
»Keine«, antwortete ich. »Bisher jedenfalls nicht.«
»Werden Städte auf dem Mond gebaut?«, fragte ein anderer Junge hoffnungsvoll.
»In den 1960 er Jahren haben wir ein bisschen Müll und eine Flagge da oben gelassen, das war’s aber auch.«
»Regiert Großbritannien immer noch die Welt?«
»Ähm … nein.«
Sie wirkten enttäuscht. Miss Peregrine witterte offenbar eine Gelegenheit, denn sie warf ein: »Seht ihr, Kinder? So toll ist die Zukunft gar nicht. Am guten alten Hier und Jetzt ist nichts auszusetzen!« Mich beschlich das Gefühl, dass sie häufiger versuchen musste, die Kinder zu überzeugen – jedoch mit mäßigem Erfolg.
»Darf ich mal fragen, wie alt ihr alle seid?«, erkundigte ich mich.
»Ich bin dreiundachtzig«, antwortete Horace.
Olive hob aufgeregt die Hand. »Ich werde nächste Woche fünfundsiebzigeinhalb!« Ich fragte mich, wie sie die Monate und Jahre nachhielten, wenn sich der Tag nie änderte.
»Ich bin entweder hundertsiebzehn oder hundertachtzehn«, sagte ein Junge mit Schlafzimmerblick namens Enoch. Er wirkte nicht älter als dreizehn. »Vor dieser Zeitschleife habe ich in einer anderen gelebt«, erklärte er.
»Ich bin fast siebenundachtzig«, sagte Millard, und man sah das Stück Gänsekeule, das er offenbar beim Reden in seiner Wange hin- und herschob. Stöhnend hielten sich die anderen die Augen zu und sahen fort.
Dann war ich an der Reihe. Ich sagte ihnen, dass ich sechzehn sei. Ein paar der Kinder rissen erstaunt die Augen auf. Olive lachte überrascht. Für sie alle war es sonderbar, dass ich so jung sein sollte, für mich war dagegen sonderbar, wie alt sie in Wahrheit waren. In Florida kannte ich eine Menge Achtzigjährige, aber diese Menschen hier verhielten sich anders. Als würde die Beständigkeit ihres Lebens, die gleichbleibenden Tage – dieser nie endende Sommer –, sie nicht nur körperlich, sondern auch emotional konservieren, sie in ihre Jugend einschließen wie Peter Pan und seine »verlorenen Jungs«.
Draußen ertönte ein Knall. Der zweite an diesem Abend, aber er war lauter und näher als der erste. Das Besteck und die Teller klirrten leise.
»Aufessen, beeilt euch!«, trällerte Miss Peregrine. Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da wurde das Haus erneut erschüttert. Hinter mir fiel ein Bild von der Wand.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Das sind wieder diese verdammten Deutschen!«, knurrte Olive und schlug mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch. Damit ahmte sie zweifellos einen wütenden Erwachsenen nach. Dann hörte ich ein entferntes Heulen, und plötzlich verstand ich, was los war. Es war der Abend des 3 . September 1940 . Schon bald würde eine Bombe vom Himmel fallen und ein riesiges Loch in dieses Haus reißen. Das Heulen kam von der Sirene auf dem Hügel. Es war Fliegeralarm.
»Wir müssen hier raus.« Panik stieg in meiner Kehle auf. »Wir müssen weg, bevor die Bombe einschlägt!«
»Er weiß es nicht!«, kicherte Olive. »Er glaubt, wir würden sterben!«
»Es ist nur der Übergang«, sagte Millard und
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