Die Insel der besonderen Kinder
schließlich auf den Rückweg machten, ging schon fast die Sonne unter. Emma klebte förmlich an mir, und ihr Handrücken strich über meinen. Bei einem Apfelbaum blieb sie stehen, um einen Apfel zu pflücken. Aber selbst auf Zehenspitzen kam sie nicht an die untersten Früchte heran. Also tat ich das, was jeder Gentleman getan hätte, und half ihr. Ich legte die Arme um ihre Taille und bemühte mich, nicht zu ächzen, als ich sie hochhob. Sie streckte den hellhäutigen Arm aus, und ihr feuchtes Haar glitzerte in der Sonne. Als ich sie wieder absetzte, hauchte sie mir einen Kuss auf die Wange und reichte mir den Apfel.
»Hier«, sagte sie. »Den hast du dir verdient.«
»Den Apfel oder den Kuss?«
Sie lachte und lief hinter den anderen her. Ich wusste nicht, wie ich es nennen sollte, was da zwischen uns passierte, aber es gefiel mir. Ich kam mir blöd vor und linkisch – und fühlte mich gleichzeitig einfach gut. Rasch steckte ich den Apfel in die Tasche und folgte Emma.
Als wir das Moor erreichten, sagte ich, dass ich nach Hause müsse. Sie zog einen Schmollmund. »Lass mich dich wenigstens zum Grab begleiten«, bat sie. Wir winkten den anderen zum Abschied zu und gingen hinüber zum Steingrab. Ich gab mein Bestes, mir genau einzuprägen, wohin sie trat.
Vor dem Eingang bat ich sie: »Komm für eine Minute mit auf die andere Seite.«
»Besser nicht. Ich gehe lieber zurück, sonst verdächtigt uns der Vogel.«
»Wegen was?«
Sie lächelte verlegen. »Wegen … irgendwas.«
»Aha.«
»Sie liegt ständig auf der Lauer«, sagte Emma lachend.
Ich änderte meine Strategie. »Dann komm mich doch stattdessen morgen besuchen.«
»Dich besuchen? Da drüben?«
»Warum nicht? Da spioniert uns Miss Peregrine wenigstens nicht nach. Du könntest meinen Dad kennenlernen. Wir werden ihm natürlich nicht sagen, wer du bist. Aber dann macht er sich vielleicht weniger Gedanken darüber, wie ich meine Zeit verbringe. Dass ich mit einem scharfen Mädel herumhänge, ist sein Lieblingstraum als Dad.«
Ich dachte, sie würde darüber lächeln, dass ich sie als scharfes Mädel bezeichnete, aber stattdessen wurde sie ernst. »Der Vogel erlaubt uns immer nur, für ein paar Minuten hinüberzugehen, um die Zeitschleife offen zu halten.«
»Dann sag ihr, dass du genau das tust!«
Sie seufzte. »Ich möchte gern. Aber es ist keine gute Idee.«
»Sie hält dich an einer ziemlich kurzen Leine.«
»Du weißt nicht, wovon du redest«, sagte Emma mit finsterer Miene. »Und danke, dass du mich mit einem Hund vergleichst.«
Ich fragte mich, wie wir vom Flirten so schnell zu einem Streit hatten gelangen können.
»So habe ich es nicht gemeint.«
»Es ist wirklich nicht so, dass ich nicht möchte«, verteidigte sie sich. »Aber ich kann nicht.«
»Okay, ich mache dir einen Vorschlag. Vergiss das mit dem ganzen Tag. Komm nur für eine Minute rüber, und zwar jetzt.«
»Eine Minute? Was können wir denn in der kurzen Zeit tun?«
Ich grinste. »Du wirst dich wundern.«
»Sag’s mir!«, drängte sie.
»Ein Foto von dir machen.«
Ihr Lächeln verschwand. »Ich sehe gerade nicht sehr vorteilhaft aus«, erwiderte sie skeptisch.
»Doch, du siehst toll aus. Ehrlich.«
»Nur eine Minute? Versprochen?«
Ich ließ sie vorangehen. Als wir aus dem Steingrab traten, war die Welt neblig und kalt. Zum Glück hatte es wenigstens aufgehört zu regnen. Ich holte mein Handy heraus und war froh, dass sich meine Theorie bestätigte. Auf dieser Seite der Zeitschleife funktionierten elektrische Geräte.
»Wo ist deine Kamera?«, fragte sie bibbernd. »Bringen wir es hinter uns!«
Ich hob das Handy und fotografierte sie. Emma schüttelte nur den Kopf. Dann versuchte sie, sich zu verstecken, und ich verfolgte sie um den Steinhaufen herum. Wir lachten die ganze Zeit. Emma duckte sich immer wieder fort, um im nächsten Moment erneut aufzutauchen und sich in Pose zu werfen. Eine Minute später hatte ich so viele Fotos von ihr geschossen, dass der Speicher fast voll war.
Emma lief zum Eingang des Steingrabs und warf mir eine Kusshand zu. »Bis morgen, Future Boy!«
Ich winkte ihr. Emma kroch in den Tunnel und war verschwunden.
* * *
Nass, frierend und grinsend wie ein Idiot hüpfte ich zurück ins Dorf.
Ich war noch ein Stück vom Pub entfernt, als ich etwas über das Summen der Generatoren hinweg hörte – jemand rief meinen Namen. Ich folgte der Stimme und entdeckte meinen Vater. In einem feuchten Pullover stand er auf der Straße, sein Atem
Weitere Kostenlose Bücher