Die Insel der besonderen Kinder
kommen, suchen sie nach uns, aber einen Großteil ihrer Energie verwenden sie darauf, Opfer für den Hollow zu finden, Tiere oder Menschen – und hinterher alles zu vertuschen.« Millards Tonfall war wissenschaftlich, als würde er über das Brutverhalten einer durchschnittlich interessanten Nagetiergattung sprechen.
»Aber werden die Wights nicht erwischt?«, fragte ich. »Wenn sie mithelfen, Menschen zu ermorden, sollte man meinen …«
»Manche schon«, sagte Emma. »Ich wette, dass du sogar schon von einigen in den Nachrichten gehört hast. Es gab zum Beispiel einen Typen, in dessen Eistruhe man Menschenköpfe gefunden hat – und in einem Suppentopf köchelten Innereien. Als würde er gerade ein Weihnachtsessen zubereiten. Das muss vor nicht allzu langer Zeit gewesen sein.«
Ich erinnerte mich vage an eine reißerische Sondersendung im Fernsehen über einen Kannibalen aus Milwaukee.
»Meinst du … Jeffrey Dahmer?«
»Ich glaube, so hieß der Gentleman«, bestätigte Millard. »Ein faszinierender Fall. Obwohl er schon seit Jahren kein Hollow mehr war, schien er nie seine Vorliebe für Menschenfleisch verloren zu haben.«
»Ich dachte, ihr dürft nichts über die Zukunft wissen?«, fragte ich.
Emma grinste mich vielsagend an. »Der Vogel behält nur die schönen Sachen über die Zukunft für sich, aber du kannst darauf wetten, dass wir erfahren, wenn es etwas Furchtbares gibt.«
In dem Moment kam Miss Peregrine zurück. Sie zog Enoch und Horace an den Hemdsärmeln hinter sich her. Alle sahen sie erwartungsvoll an.
»Wir haben soeben von einer neuen Bedrohung erfahren«, verkündete sie und nickte mir dankbar zu. »Außerhalb unserer Zeitschleife ist ein Mann unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Wir können nicht sicher sein, was die Todesursache angeht und ob wir bedroht sind, aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Bis auf weiteres verlässt niemand das Haus, nicht einmal, um Gemüse zu ernten oder eine Gans für das Abendessen hereinzuholen.«
Allgemeines Stöhnen erklang, über das Miss Peregrine ihre Stimme erhob. »Diese Tage sind für uns alle schwierig. Ich bitte euch weiterhin um Geduld.«
Hände schossen nach oben, aber Miss Peregrine wies jegliche Fragen zurück und ging los, um die Türen zu verriegeln. Panisch rannte ich hinter ihr her. Wenn es wirklich etwas Gefährliches auf der Insel gab, dann konnte es mich in dem Moment umbringen, wenn ich einen Fuß aus der Zeitschleife hinaussetzte. Aber wenn ich hierblieb, ließ ich meinen Vater schutzlos zurück, ganz davon zu schweigen, dass er krank vor Sorge um mich sein würde. Erstaunlicherweise fand ich das schlimmer.
»Ich muss gehen«, sagte ich, sobald ich Miss Peregrine eingeholt hatte.
Sie zog mich in ein leeres Zimmer und schloss die Tür. »Sprich nicht so laut!«, befahl sie. »Du wirst meine Anordnungen befolgen. Was ich gesagt habe, gilt auch für dich. Niemand verlässt das Haus.«
»Aber –«
»Bisher habe ich dir ein beispielloses Maß an Autonomie gewährt. Aus Respekt vor deiner einzigartigen Situation durftest du kommen und gehen, wie es dir beliebte. Aber man ist dir vielleicht schon auf die Insel gefolgt, und das bringt das Leben meiner Schützlinge in Gefahr. Ich werde nicht zulassen, dass du sie – oder dich – weiterhin gefährdest.«
»Verstehen Sie denn nicht?«, erwiderte ich wütend. »Es laufen keine Boote aus. Die Menschen im Dorf sitzen fest. Mein
Vater
sitzt fest. Wenn es dort einen Wight gibt und es dieser sonderbare Vogelfreund ist … Mein Dad und er hatten schon eine unangenehme Begegnung. Wenn er schon einen völlig Fremden an den Hollow verfüttert hat, was glauben Sie wohl, wen er sich als Nächstes holt?«
Miss Peregrines Miene war wie versteinert. »Das Wohlergehen der Dorfbewohner liegt nicht in meiner Verantwortung«, entgegnete sie. »Ich werde meine Schützlinge nicht in Gefahr bringen. Für niemanden.«
»Es geht nicht nur um die Dorfbewohner. Es geht um meinen Vater. Glauben Sie wirklich, ein paar verschlossene Türen können mich hier festhalten?«
»Vielleicht nicht. Aber wenn du darauf bestehst, zu gehen, dann verbiete ich dir, jemals wiederzukommen.«
Ich war so erschrocken, dass ich lachte. »Aber Sie brauchen mich«, sagte ich.
»Ja, das stimmt«, sagte sie. »Sehr sogar.«
* * *
Ich stürmte nach oben in Emmas Zimmer. Drinnen bot sich mir ein Bild der Frustration. Bronwyn starrte reglos aus dem Fenster. Enoch saß auf dem Boden und fingerte an einem
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