Die Insel der Dämonen
Seite und hielt ihn stundenlang im Arm. Am folgenden Tag - es war der 1. Dezember, als Damienne gerade unten am Bach war, um frisches Wasser zu holen - hob er plötzlich den Kopf und sah Marguerite an. Seine Augen waren völlig klar, jede Spur von Fieber verschwunden.
»Versprich mir etwas, Marguerite.«
Er sprach so leise, daß sie ihn kaum verstand.
»Was, Liebster?«
»Daß du nie in den Norden gehst. Gehe nie weiter als zu dem Felsen, an dem wir den ersten Elch geschossen haben. Versprich es mir!«
»Aber was ist im Norden, Henri?«
»Das Tor zur Hölle, Marguerite.«
»Liebster!«, rief Marguerite entsetzt. Er sprach also immer noch im Fieberwahn.
»Versprich es!«
»Gut, Liebster, ich verspreche es.«
»In Ordnung«, sagte er und lächelte.
»Fühlst du dich besser?«
»Ja, leichter fühle ich mich. Es ist nur schade.«
»Was denn, Henri?«
»Daß ich nicht sehen werde, wie unsere Tochter aufwächst.«
Marguerite schnürte es die Kehle zu. Dann sagte sie tapfer: »Es wird sicher ein Sohn.«
Aber Henri war schon wieder eingeschlafen. Er wachte nicht mehr auf. Er schlief still und friedlich den ganzen Tag und die folgende Nacht. Am nächsten Morgen war er tot.
Marguerite lag neben ihm und hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen, aber Damienne ließ das nicht zu: »Komm raus aus der Hütte! Willst du deinen Geliebten nicht mit Würde verabschieden? Er braucht ein Grab, also steh auf und hilf mir - oder soll ich das alleine besorgen?«
Der rauhe Ton wirkte - zumindest ein wenig. Marguerite löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie weinte, ohne es zu merken, und fühlte in sich eine große Leere.
Sie beschlossen, Henri unter ihrem Baum zu begraben. Die Erde war naß und schwer, und sie hatten nicht viel mehr als geschnitzte Tierknochen, feuergehärtetes Holz und ihre bloßen Hände, um zu
graben. Marguerite fiel die Arbeit schwer, denn ihr Bauch war weiter gewachsen und sie war nicht mehr so beweglich, aber die Tätigkeit lenkte sie ab - und alles war besser, als nur dazusitzen und zu warten, bis es ihr das Herz zerriß .
Sie stellten bald fest, daß der Boden mit starken Baumwurzeln durchzogen war. Sie mühten sich ab, doch ohne eine Axt oder eine Säge war der Kampf verloren.
»Diese verfluchte Insel«, stöhnte Damienne, »nicht mal ein anständiges Begräbnis gönnt sie uns.«
»Wir müssen einen anderen Platz finden«, sagte Marguerite. »Können wir ihn nicht nah bei der Hütte begraben?«
»Nein, mein Kind, die Lebenden und die Toten sollten nicht zu nah beieinander wohnen.«
Sie fanden schließlich einen Platz am Rande der Wiese, wo der Weg hinunter zur Salzbucht führte: der Platz, an dem im Sommer die Sonne die Wiese zuerst erreichte. Sie gruben den ganzen Tag und kamen bis zum Einbruch der Dunkelheit gerade einmal einen halben Meter tief.
»Das reicht noch nicht«, sagte Damienne, »wir müssen morgen weitergraben.«
Am Abend und in der Nacht hielten sie Totenwache. Sie beteten für Henris Seelenheil und sie beteten lang.
»Er wird unsere Gebete brauchen«, sagte Damienne, »denn er ist ohne Beichte und ohne Sterbesakramente gestorben. Ich hoffe, der Herr nimmt ihn trotzdem bei sich auf.«
Irgendwann verebbten ihre Gebete, und sie saßen stumm da und betrachteten Henri, der aussah, als schliefe er. Es war eine klare und kalte Nacht, die leichten Frost brachte - und von irgendwo da draußen drang die Geisterstimme in die Hütte ein. Marguerite kam es vor, als würde die Stimme einen Triumph feiern. Kalte Schauer fuhren ihr über den Rücken, aber sie beschloß, den Kampf nicht aufzugeben. Sie hielt sich tapfer, aber als sie den toten Geliebten liegen sah, Stunde um Stunde, wurde sie doch von ihrer Trauer überwältigt. Sie fing an zu weinen und Damienne nahm sie tröstend in den Arm.
»Weißt du, Damienne, ich wünschte, ich hätte ihn nie getroffen, dann wären wir nicht hier und er würde froh und glücklich leben. Ich wollte, ich hätte mich nie in ihn verliebt, denn jetzt weiß ich nicht, ob ich diesen Schmerz ertrage«, sagte Marguerite irgendwann in dieser Nacht.
Damienne nahm sie stumm in den Arm. Was konnte sie schon sagen? Sie hatte nie recht verstanden, was Marguerite und Henri verband. Liebe? Davon verstand sie nicht viel. Es mochte sein, daß es stimmte, was sie einmal gehört hatte: Daß es besser war, zu lieben und zu verlieren, als nie geliebt zu haben, aber sie hatte ihre Zweifel. Sie war zwar verheiratet gewesen, aber ihre Eltern hatten dafür gesagt, daß
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