Die Insel der Krieger
ergab sich seinem Schicksal. »Hm. « Mira ließ den Vogel neben der Lampe sitzen und begann suchend unter den getrockneten Blättern und Blüten umher zu laufen. »Schwer zu sagen«, meinte sie, den Blick nach oben gewandt. »Wärst du mit einem gewöhnlichen Falken zu mir gekommen, der eine solche Verletzung hat, würde ich dir raten, ihn nicht länger diese Schmerzen leiden zu lassen. Da er nun aber dein Begleittier ist... « Sie sprach nicht weiter. »Schwierig. « Sie zog den Tisch zurecht, stellte sich darauf und pflückte ein Paar Blätter von der D e cke. Dann entzündete sie das Feuer im Kamin, über dem ein kleiner Kupferkessel hing. »Ich werde mein Möglichstes tun. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass er wieder fliegen kann und du wirst ihn eine Weile bei mir lassen müssen. « »Wie lange? « Naligs Eingeweide brannten vor Schuldgefühlen. »So lange, wie es dauert«, erwiderte Mira unwirsch. Sie machte sich an ihrem Kessel zu schaffen und nahm keine weitere Notiz von ihren Besuchern. Kaya verließ den Raum und mit einem letzten Blick auf seinen Falken folgte Nalig ihr. Sie betraten das Haupthaus des Tempels durch die Hallen des Schicksals. Dort ging die Göttin auf die Liege zu, auf der Nalig seine erste Nacht verbracht hatte. Der Junge war sich sicher, dass sie noch nicht mit ihm fertig war und folgte ihr. Sie bedeutete ihm, sich zu setzten. Im Augenblick hatte Nalig keinerlei Angst vor einer Bestrafung. Im Gegenteil hatte er sogar das Gefühl, sie verdient zu haben. »Wenn jemand deinem Falken he l fen kann, dann Mira«, meinte Kaya überraschend freundlich. Dennoch zuckte Nalig beim Klang ihrer Stimme zusammen. »Ich hoffe, dir ist klar, dass du einen Fehler gemacht hast. « Nalig nickte stumm. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie ihn angeschrien hätte. Seine größte Sorge war nun, dass sie ihn danach fragte, wie er ans Ufer gelangt war. Er wollte nicht, dass Zalari seinetwegen auch in Schwierigkeiten geriet. »Keine Sorge, ich zwinge niemanden, seine Freunde zu verraten«, versicherte die Göttin, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Alle r dings kann ich über dein Verhalten nicht einfach hinwegsehen. « Der Junge hob den Kopf. Er blickte in die 800 Jahre alten Augen der Gö t tin und fragte sich, welche Strafe sie wohl für ihn bereithielt. »Du wirst, wann immer du nicht bei den Mahlzeiten, deinem Training oder dem Unterricht bist, Hato in der Bibliothek helfen. Er wird über deine Hilfe froh sein und zum einen wird dir der Umgang mit Büchern s i cher bei deinen eigenen Studien helfen, zum anderen hast du dabei genug Gelegenheit, dir darüber klarzuwerden, was du heute Nacht getan hast und was du eigentlich von deiner Ausbildung und dir selbst erwartest. Du solltest darüber nachdenken, was der Verlust deines Falken für dich bedeuten würde. Und ich rate dir, dies gründlich zu tun. « Die Vorstellung, all seine Zeit in einem riesigen Raum voll sta u biger Bücher verbringen zu müssen, war für Nalig mit die schlimmste, die es gab. Selbst stundenlange Feld- oder Küchenarbeit hätte er eher ertragen. Er mutmaßte, dass Kaya dies wusste und deshalb genau diese Strafe für ihn ersonnen hatte. Außerdem wusste er, dass er nichts anderes verdient hatte und nickte daher nur, statt zu widersprechen. Dann schickte die Göttin ihn zu Bett.
Die Insel der Götter
D ie nächsten Tage brachten für Nalig wenig Erfreuliches. Erst jetzt, da er fort war, wurde ihm klar, wie selbstverständlich die Anwesenheit seines Falken inzwischen für ihn geworden war. Nun, da er nicht mehr ständig auf seiner Schulter saß, schien es Nalig, als fehle ein wesentl i cher Teil von ihm. Hinzu kamen die Schuldgefühle, die mit jedem Besuch in Miras Hütte schlimmer wurden, wo sein Begleiter meist teilnahmslos in einer Ecke saß. Es war schwer zu sagen, ob es dem Vogel bereits besser ging. Die plumpe Schiene, die Mira ihm angelegt hatte, wirkte seltsam fehl am Platz. Zu seinem üblichen Training kam nun noch die Strafe, die er in der Bibliothek verbüßte. Die Bibliothek befand sich im Haupthaus des Tempels und war ein einziger Raum, so groß wie die Kathedrale von Serefil. Er reichte über zwei Stockwerke und beherbergte ein Labyrinth aus Regalen und Schränken, in denen zahllose Bücher und Schriftrollen lagerten. Hier half Nalig Hato, die unermessliche Zahl an Schriften zu ordnen und die Titel der Werke in eine nahezu endlose Liste aufzunehmen – was eine mühsame Aufgabe war, insbesondere, da Nalig das
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