Die Insel der Krieger
Lesen noch immer schwerfiel. Der Raum war so groß und unübersichtlich, dass Nalig fast nie einem der seltenen Besucher begegnete und auch Hato nur dann antraf, wenn dieser ihn erwartete, um ihm seine Aufgaben zuzuteilen. Obgleich er stets den Eindruck gehabt hatte, dass der Geschichtslehrer ihn moc h te, wirkte dieser ihm gegenüber nun seltsam kühl. Ein ähnliches Ve r halten war Nalig schon bei den drei älteren Kriegern aufgefallen. Wie alles, hatte sich auch Naligs Ausflug auf das Festland rasch herumg e sprochen. Was sie jedoch mehr zu missbilligen schienen als die Tats a che, dass er sie damit in Gefahr gebracht hatte, war die Verletzung seines Begleittiers. Seinen Gefährten einer solchen Gefahr auszuse t zen, schien das schlimmste Verbrechen, das ein Krieger dieser Insel begehen konnte. Daher war Nalig besonders froh, dass wenigstens Zalari und Arkas wie immer mit ihm umgingen. Zalari hatte keine Strafe dafür erhalten, dass er ihm geholfen hatte, und auch wenn Kaya darauf bestand, dass Nalig wirklich jeden freien Augenblick in der Bibliothek verbrachte, so gestattete sie seinen Freunden wenigstens, ihn dort zu besuchen. Dass Arkas ihm keine Vorhaltungen machte, obgleich er ihn mehrfach davor gewarnt hatte, die Insel zu verlassen, rechnete Nalig ihm hoch an.
»In meinem ersten Jahr auf der Insel habe ich Kir während des Trainings verloren. Alle haben den Tempel und den Wald im Umkreis abgesucht, bis wir sie nach zwei Tagen in der Speisekammer wiederg e funden haben«, versuchte Zalari Nalig aufzuheitern, als die drei Jungen am Morgen in der sonnendurchfluteten Bibliothek saßen, inmitten der Bücherstapel, die Nalig ordnen sollte. »Das ist nicht dasselbe. Kir wurde dabei nicht verletzt und du hast sie nicht absichtlich verloren. Ich habe Kijerta verlassen, obwohl ich wusste, dass es verboten ist. « »Aber du wolltest nicht, dass dein Falke verletzt wird und womöglich hast du ihn in ein paar Tagen wieder«, versuchte Arkas sein Glück. Doch Nalig hatte noch immer vor Augen, wie der Vogel sich kre i schend gegen den Habicht wehrte und zu Boden fiel, wo er sitzen geblieben war, wie er noch immer in Miras Hütte saß. Da es offe n sichtlich nichts gab, womit sie Nalig trösten konnten, verließen Zalari und Arkas bald darauf die Bibliothek und ließen ihn seine Arbeit ve r richten. Seufzend griff Nalig eines der Bücher von einem Stapel. Seine Aufgabe an diesem Morgen bestand darin, die Titel und Verfasser der Bücher sowie die Jahreszahlen der Entstehung aufzuschreiben und sie dann in die entsprechenden Regale zu räumen. Erschwert wurde diese Aufgabe dadurch, dass die Werke häufig keinen Titel hatten und der Name des Verfassers nirgends zu stehen schien. In diesem Fall war es an Nalig herauszufinden, wovon das Buch handelte und es dem Inhalt entsprechend in eine der zahlreichen Abteilungen der Bibliothek zu bringen. Ein Problem, das sich für Nalig dabei ergab, war die Tatsache, dass viele der Bücher jahrhundertealt waren, was zur Folge hatte, dass die Seiten gelb und die Schrift unleserlich waren und die handschriftl i chen Texte oft andere Schriftzeichen enthielten als jene, die Nalig von Hato gelernt hatte. So auch bei diesem Buch. Der Einband aus schwarzem Leder ließ keinen Rückschluss auf den Verfasser zu. Das alte Pergament knisterte, als er das Buch aufschlug. Staub wirbelte auf und einige Seiten segelten abgelöst vom brüchig gewordenen Leim zu Boden. Genervt sammelte der Junge sie ein und blätterte dann vo r sichtig zur ersten Seite. In verblasster Tinte standen dort in einer Ecke winzig klein ein Name und eine Jahreszahl. Demzufolge war das Buch von einem Mann namens Marik geschrieben worden und bereits über 1000 Jahre alt. »Marik«, las Nalig den Namen laut vor und obgleich er sicher war, ihn nie zuvor gehört zu haben, war er seltsam vertraut. Erstaunlicherweise hatte er auch kaum Mühe, die Handschrift zu lesen, trotz des Jahrtausends, das die Seiten überdauert hatten. Auf der Suche nach der Stelle, an der die herausgefallenen Seiten fehlten, las Nalig mehrere Balladen und Gedichte, die allesamt einer Frau namens Zari gewidmet waren und auch wenn Nalig sich nie etwas aus Dichtung und dergleichen gemacht hatte, fühlte er sich merkwürdig ergriffen. Als Hatos Krähe flügelschlagend auf einem nahen Regal landete, um festzustellen, ob er tatsächlich arbeitete, ertappte Nalig sich dabei, das Buch bereits zur Hälfte gelesen zu haben. Nie zuvor hatte er freiwillig einen Text dieser
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