Die Insel der Krieger
»Meine Mutter und ich lebten noch eine Weile auf der Insel. Als ich alt genug war, um alleine z u rechtzukommen, verschwand auch sie. Sie hat den Verlust meines Vaters nie ganz überwunden. Schließlich haben sie ein ganzes Jahrta u send gemeinsam verbracht. Jedenfalls habe ich in all den Jahren, die ich schon hier bin, nie einen Hinweis darauf gefunden, dass es etwas in diesen Wäldern gibt, das nicht hierher gehört. « Nalig hatte das Gefühl, dass ihn nach diesem Gespräch mehr Fragen beschäftigten als zuvor. »Ich habe nach dem Tod meines Vaters jedes Stück Papier untersucht, das er beschriftet hat. Aber ich habe nie herausgefunden, was damals wirklich vor sich ging. « Da er offensichtlich nicht mehr von Kaya erfahren konnte, als er nun wusste, erhob sich Nalig. Er bedankte sich bei der Göttin für die Zeit, die er in Anspruch genommen hatte, und wandte sich zum Gehen. Dabei fiel sein Blick auf eine Karte auf ihrem Tisch, die ihm wohl bekannt vorgekommen wäre, hätte er den Kopf nicht so voller unbeantworteter Fragen gehabt. Er hatte schon die Tür geöffnet, als er noch einmal innehielt. »Was ist eigentlich aus den Gö t tern geworden, die Kijerta verließen? « Kaya ließ sich nun ihrerseits auf Kartax’ Liege nieder und lächelte wissend. »Ihre Bindung an diese Insel war zu stark, um sich auf Dauer allzu weit von ihr zu entfernen. Sie ließen sich in Dörfern nahe dem Ufer des Sees nieder. Jedes der Dörfer, in dem sich die acht Familien niederließen, gehört heute zu einem anderen der acht Königreiche. Sie lebten dort das Leben g e wöhnlicher Menschen in der kurzen Zeit, die ihnen noch blieb. Noch heute wähle ich Nachkommen dieser Familien, die noch göttliches Blut in sich haben, aus, um auf Kijerta zu Kriegern zu werden, welche die Aufgabe, die Menschheit zu beschützen, an Stelle der Götter übe r nehmen. « Nalig war nicht sicher, ob er die Göttin richtig verstanden hatte. »Soll das heißen, dass alle, die je als Krieger auf dieser Insel ausgebildet wurden, also auch Zalari, Greon, Thorix und ich, Nachfa h ren von Göttern sind? « »Genau das wollte ich damit sagen. Fast alle Bewohner der acht Dörfer sind irgendwie mit den Göttern verwandt. Aber nicht alle kommen als Krieger infrage. Die Verwandtschaft zu den Göttern und die damit einhergehende Bindung an die Insel ve r hindern zudem noch immer, dass die Nachkommen der Götter die Dörfer am See verlassen und in andere Teile des Landes auswandern. Es waren übrigens meine Tanten, Onkel und Großeltern, die sich damals in Serefil niederließen. « Die Göttin schien belustigt angesichts der Wirkung, die ihre Worte auf den Jungen hatten. »Ich wünsche dir noch einen schönen Nachmittag. Wir sehen uns dann beim Abende s sen. « Nalig war so erpicht darauf, Zalari und Arkas von diesen Neui g keiten zu berichten, dass er beinahe seine Strafe vergessen hätte. Da er es für wenig taktvoll hielt, während des Abendessens in Kayas Beisein über ihre toten Eltern zu sprechen, bot sich erst bei der Geschicht s stunde am nächsten Tag die Gelegenheit, Zalari und Arkas über sein Gespräch mit Kaya in Kenntnis zu setzen. »Naja, wenn man bedenkt, wie viel Zeit seither vergangen ist, sind wir allenfalls noch sehr entfer n te Verwandte der Götter von damals«, meinte Zalari leise, nachdem Nalig seinen Bericht abgeschlossen hatte. Allerdings konnte er damit nicht verbergen, wie unglaublich auch er diese Tatsache fand. »Ich wüsste nur zu gerne, was sich hinter dem Grauen ohne Gesicht ve r birgt. « Nalig warf einen Blick nach vorn, um sicherzugehen, dass Hato in einen seiner Monologe vertieft war. »Die Hauptsache ist doch, dass es jetzt weg ist«, stellte Arkas fest, dem die ganze Geschichte nicht besonders zu behagen schien. Im Grunde war Nalig derselben Me i nung. Doch nun, da er von seiner weitläufigen Verwandtschaft zu Kayas Familie wusste, fühlte er sich von dieser Sache viel mehr betro f fen als zuvor. Bei seinem Besuch in Miras Hütte fand Nalig seinen Falken an diesem Tag in besonders schlechtem Zustand vor. Die A u gen fast geschlossen, saß er leicht schwankend auf einer hölzernen Vogelstange, die Mira für ihn aufgestellt hatte. »Er hat einfach keine Ruhe gegeben. Deshalb hat er ein paar mit Schlafmittel gefüllte Mäuse bekommen. Wenn er ständig herumflattert, wird der Flügel nie verhe i len«, erklärte Mira, die getrocknete Blüten mörserte. Mitleidig streiche l te Nalig das Gefieder am Bauch des Vogels. Schlaftrunken stieg
Weitere Kostenlose Bücher