Die Insel der Mandarine
wir wieder seine Verfolgung auf .« »Oh, nein.
Nicht noch einmal«, flüsterte ich kraftlos. »Aber, Ochse, es war doch so
aufregend !« zischelte der Wirt. Aufregend? War diese
grausige Jagd für ihn so unterhaltsam wie ein Pferderennen oder eine
Schlittenfahrt über einen vereisten Hang gewesen? Plötzlich war ich frei von
Ketten. Ich fühlte mich wie ein Hund, der von der Leine gelassen wird, sauste
los und wäre um ein Haar gegen eine Mauer gerannt, doch in diesem Augenblick
schoß mir das Bild von einem Hund durch den Kopf. Einem kleinen kranken Hund,
der von einem Dienstmädchen mit albernen Pantoffeln auf einem Seidenkissen
getragen wurde. Und dann hörte ich die Stimme des Himmlischen Meisters, der
archaische Worte wie eine Litanei intonierte. »Wenn es sich weiterhin krank
fühlt, dann reib es mit dem ausgelassenen Fett vom Bein eines Schneeleoparden
ein. Gib ihm den mit drei Prisen gemahlenen Rhinozeroshorns vermischten Saft
des Zimtapfels aus den Eierschalen der Singdrossel zu trinken. Leg ihm
gescheckte Blutegel an, und wenn es dann immer noch darniederliegt, dann
erinnere dich daran, daß kein Geschöpf unsterblich ist und auch du sterben mußt .« Meister Li hatte es überprüft. Der Hund war nicht mehr
gesund geworden. »Und auch du mußt sterben«, hatte der Himmlische Meister
gesagt. Und auch du mußt sterben... auch du mußt sterben ...
Ich schreckte aus meiner
Träumerei auf, als sich die Zellentür knarrend öffnete. Wirt Sechsten Grades
zog daran, und der schwache Schein von Fackellicht huschte über seine
unangenehmen Züge und Meister Lis Gesicht. Ich folgte den beiden in den Gang
hinaus. Meister Li nahm den schweren Schlüsselring von einem Haken an der Wand
und schloß Zellentür um Zellentür auf, doch die Gefangenen strömten nicht
heraus. Sie hatten sich wie Embryos in den Winkeln zusammengekauert und hielten
sich die Ohren zu, um die Schreie nicht hören zu müssen, die die Hilfsschergen
unter den Händen des Wirts ausgestoßen hatten, und ich bezweifelte, daß auch
nur einer von ihnen es wagen würde, sich vom Fleck zu rühren.
»Wirt, gestern nacht hat die Schwarze Wache eine neue Gefangene gebracht.
Eine junge Frau namens Yu Lan. Weißt du irgend etwas über sie ?« erkundigte sich Meister Li. »Nein, ich habe nichts von einer jungen Frau
gehört.« »Irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse?« »Ja«, entgegnete der Wirt
nachdenklich. »Ein paar zum Tode verurteilte Gefangene sind aus ihren Zellen zu
einem andern Ort gebracht worden, wo sie für eine Zeremonie bestimmt sind, die
irgendwann heute stattfinden soll .«
»Wirklich? So wie Tiere zum
Schlachten, meinst du ?« fragte der Weise.
»Ich nehme es an. Es geht
das Gerücht, daß die Zeremonie zum Zeitpunkt der Sonnenwende im Hof der
Eunuchen stattfinden soll«, erklärte Wirt Tu.
Meister Li schwieg eine
Weile. Dann flüsterte er: »Ja, das könnte gehen. Der Erhabene Jadekaiser hat
ein aufbrausendes Temperament, und wenn der Himmel sich abkehrt...« Dann fuhr
er aus seiner Träumerei auf und bellte: »Schnell. Wir müssen zu dem Hof, in dem
die Zeremonie geplant ist .«
Wirt Tu kannte das
unterirdische Labyrinth zum Teil, und was er nicht wußte, konnte Meister Li aus
der Erinnerung ergänzen, nach Architektenzeichnungen, die er vor fünfzig Jahren
einmal gesehen und nie vergessen hatte. Wie vieles andere in der Verbotenen
Stadt ist der Goldene Fluß künstlich angelegt, und ein höchst wirkungsvolles
System macht es möglich, daß er sich anmutig in einem Wasserfall ergießt, um
dann bergauf zu fließen, damit er an anderer Stelle erneut in die Tiefe
rauschen kann. Das Wasser rauscht durch Felsspalten in ein miteinander
verbundenes Höhlengeflecht, wo es mit Hilfe von riesigen Wasserrädern Stufe um
Stufe bis zu der gewünschten Höhe geschafft wird und dann wieder an der
Oberfläche austritt. Durch Seitengänge schlichen wir aus dem Kerkertrakt in
Höhlen, die mich irgendwie an die Sechste Hölle erinnerten. Fluchend schwangen
Aufseher ihre Peitschen gegen Sklaven, die in langen Reihen mächtige
horizontale Räder antrieben. Die horizontalen Räder waren mit vertikalen
verbunden, und Wasser sprudelte unaufhörlich in riesige Schaufeln, die sich
aufwärts bewegten und durch Spalten in der Höhlendecke verschwanden.
Vorteilhaft für uns war der Höllenlärm, der verhinderte, daß man uns hörte, als
wir uns auf einem schmalen Weg dicht an den Aufsehern vorbeischoben. Auch der
Sprühnebel, der über dem Wasser hing, trug
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