Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
Vom Netzwerk:
Neid gingen
gemeinsam zum Yang-Boot auf der linken Seite, und während ich ihnen half, das
läuternde Feuer auf der Plattform in der Mitte zu entzünden, berührte mich der
Text ihres uralten Sonnwendgesanges zutiefst: »Die Funken der Sonne versengen
den Himmel! Das Feuer der Erde verbrennt die fünf Reiche! Flammen vernichten
alles, das nicht unter einem günstigen Stern steht !« Dann begaben wir uns über einen Laufsteg auf das Yin-Boot, wo wir die
Läuterungszeremonie wiederholten. Es folgten andere Zeremonien und Gesänge, die
ich weder kannte, noch verstand, und schließlich kehrte Neid allein zum
Yang-Boot zurück, und die Laufplanken wurden eingezogen. Meister Li war jetzt
völlig entspannt und die Ruhe selbst. Er musterte seinen Gegner mit forschendem
Blick.
    »Nur aus theoretischem
Interesse gefragt, gehe ich richtig in der Annahme, daß das Auftauchen dieses
Leichenfressers nichts als ein merkwürdiger Zufall war ?« erkundigte er sich.
    »Das hoffe ich inständig,
da ich es vorziehe, nicht im Sumpf metaphysischer Spekulationen umherzuirren«,
entgegnete Neid ebenso ungezwungen. »Ich vermute, daß das Ding in einen Haufen
Erde fiel, der zur Hortensien-Insel gebracht wurde. Nicht lange danach berührte
Ma Tuan Lin wohl zufällig die Perlen am Käfig in der richtigen Reihenfolge und
befreite damit den ersten meiner Brüder. Unwesen wie der Ch'ih-mei beten
Dämonengottheiten an. Als dieser aus seinem Erdhaufen kroch, kam er zwar zu
spät, um meinen Bruder zu begrüßen, fand aber immerhin wenigstens eine Mahlzeit .«
    »Und wo liegt deine
ursprüngliche Verbindung zu dem Fall ?« wollte Meister
Li wissen.
    »Ich war ebenso ahnungslos
wie der Ch'ih-mei«, entgegnete Neid. »Ich wußte auch nicht, daß die Käfige
erhalten geblieben waren, bis ich den Pi-fang ! -Schrei
hörte und den weißen Kranich im Mondschein davonfliegen sah. Es war ein
erhebender Augenblick. Wenn einer meiner Brüder überlebt hatte - was sicherlich
bedeutete, daß auch die Käfige noch existierten -, warum dann nicht auch die
anderen? Vor langer Zeit hätte ich einmal fast eine ungewöhnliche
Meisterleistung vollbracht, die nur von unglaublich hartnäckigen Schamanen
vereitelt wurde. Wenn es mir nun gelänge, diese Käfige in meinen Besitz zu
bringen, könnte ich sie mit ihren eigenen Waffen schlagen und mein Werk zu Ende
bringen. Aber wie konnte ich in den Besitz der Käfige kommen ?«
    »Indem du eine Marionette
ins Spiel brachtest«, bemerkte Meister Li säuerlich.
    »Ihr wart ein Geschenk des
Himmels. Der große Meister Li begibt sich für mich auf die Suche nach
Mandarinen und Käfigen !« rief Neid begeistert und ohne
die geringste Spur von Hohn oder Ironie aus. »Ich war überzeugt, daß Ihr den
Mechanismus entdecken würdet, durch den die Puppen sich mit der kaum nennenswerten
Hilfe von Yu Lan bewegen konnten, während ich ungehindert umherstreifte, aber
ich war auch sicher, daß Ihr es zu spät entdecken würdet.«
    Meister Li hatte die
Kapitänsposition im Bug eingenommen und ordnete jetzt seine Tücher. Zur Linken
tat Neid es ihm gleich, und ich begab mich mit einem Knoten im Hals, der mir
fast die Luft abschnürte, zu der erhöhten Plattform im Heck des Bootes, wo sich
das riesige Steuerruder mit seinem langen Griff befand. Es war in vollkommener
Balance. So sehr, daß ich es mühelos aus dem Wasser heben konnte, indem ich es
mit meinem Körpergewicht herunterdrückte. Als viel schwieriger erwies sich, es
sachte wieder hinunterzulassen, und als die Taue gelöst wurden und das Boot ein
ganz klein wenig schaukelte, riß es mich fast von den Füßen. Seitliche
Bewegungen des Ruders waren der reinste Mord, und ich mochte gar nicht daran
denken, was geschah, wenn das Boot in schwerem Wellengang auf und ab schaukeln
würde. Die beiden Schiffe glitten jetzt Seite an Seite durch die beiden Kanäle und
nahmen Fahrt auf, obwohl noch kein Ruderer die Riemen berührt hatte. Ich konnte
den Dunst jetzt weit genug mit den Blik-ken durchdringen, um vor uns einen
Lichtstreifen zu erkennen, der vollkommen gerade und scharf wie eine
Messerklinge unseren Weg schnitt.
    »Wie eine Startlinie«,
dachte ich, und im selben Moment spürte ich eine Reihe mächtiger
Erschütterungen: Eins... Zwei... Drei... Vier... Fünf... Sechs... Sieben...
Acht...
    Die acht Stimmgabeln, Yin
und Yang, machten es möglich, daß der Yu ein Lied anstimmte, das seit
dreitausend Jahren nicht mehr erklungen war. Volle, resonante Töne - trotz
aller Kraft, die darin lag,

Weitere Kostenlose Bücher