Die Insel der Orchideen
sah sie Hermann kaum zwei Meter neben sich strampeln. Verzweifelt hielt er den Kopf hoch, die Augen voller Todesangst. Das Wasser schlug über ihr zusammen, unaufhaltsam zogen ihre vollgesogenen Röcke sie nach unten. Dann spürte sie Boden unter den Füßen und stieß sich kräftig ab. Sie durchstieß die Oberfläche, schnappte nach Luft. Hermann! Wo war er? Sie kämpfte gegen ihre Röcke, schluckte einen Mund voll Wasser, sank erneut, stieß sich wieder vom Meeresgrund ab, spuckte, strampelte, und dann sah sie Henry Farnell mit ihrem Kind. Hoch hielt er den Jungen über den Kopf, hilfreiche Arme streckten sich Hermann entgegen, er zappelte und schrie, er lebte! Johanna wurde schwarz vor Augen.
»Sie kommt zu sich!«
»Dreht sie auf die Seite, die Arme über den Kopf!«
Ein Hustenanfall zwang Johanna zurück ins Leben. Sie riss die Augen auf und starrte in Farnells und Friedrichs besorgte Gesichter. »Wo ist mein Kind?« Ein erneuter Hustenanfall schüttelte sie. Erst jetzt begriff sie, dass sie lang ausgestreckt auf dem Steg lag, die nassen Kleider klebten ihr am Körper. Die Menge hielt Abstand und beäugte sie mit einer Mischung aus Neugierde und Hochachtung. »Hermann? Bitte, sagt mir, wo er ist.« Eiskalte Angst ließ sie zittern, bis endlich Mercy mit dem weinenden Hermann auf dem Arm neben Friedrich trat.
»Es geht ihm gut, Liebes. Er hat sich fürchterlich erschrocken, aber Farnell war schnell genug bei ihm, um das Schlimmste zu verhindern.«
Farnell. Johanna schickte ihm einen stummen Dank und rappelte sich zum Sitzen auf. Friedrich stützte sie, und plötzlich war ihr seine Berührung unangenehm.
»Warum hast du ihn überhaupt losgelassen? Warum bist du ihm nicht nachgesprungen?«
Friedrich mied ihren Blick. »Ich wurde angerempelt«, murmelte er zerknirscht. »Und außerdem kann ich nicht schwimmen.«
Johanna verhärtete sich innerlich. »Ich auch nicht«, sagte sie bitter.
* * *
Leah wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Bereits seit dem Morgengrauen war sie damit beschäftigt, Süßkartoffeln zu putzen. Sie streckte ihren schmerzenden Rücken und beugte sich dann wieder über die Knollen. Da sie sich die Arbeit selbst eingebrockt hatte, durfte sie wohl nicht klagen. Außerdem versprachen all die an ihrem letzten Ankerplatz gekauften Lebensmittel endlich eine Abwechslung von der eintönigen Kost aus Reis und Fisch, die sie mangels Alternativen auf der Überfahrt von Makassar nach Flores tagtäglich für die gut zwanzigköpfige Besatzung zubereitet hatte. Die Männer, ein zäher, bedürfnisloser Haufen, hatten sich nicht beschwert, kannten sie es doch nicht anders. Umso erstaunter war der Kapitän gewesen, als Leah ihn in Maumere um die Erlaubnis bat, den Markt besuchen zu dürfen, um Vorräte an Kokosnüssen, Gewürzen, lebenden Hühnern, Gemüse, Obst, Essig und vielen anderen Dingen anzulegen. Leah gab nicht viel auf ihre Kochkünste, und Ping und Lim hätten dem mit Sicherheit zugestimmt, doch jetzt war sie froh über all die mit den beiden in der Küche verbrachten Stunden. Wie viel Arbeit sie sich mit ihrem ehrgeizigen Einfall, die Kost auf dem Schiff zu verbessern, aufgebürdet hatte, ging ihr allerdings erst auf, als die Matrosen einen Korb nach dem anderen auf dem Deck stapelten.
»Koch?«
Leah sah auf. Teng Ah Tee, einer der älteren Matrosen, steckte seinen Kopf zur Türöffnung herein. Schon wenige Stunden nach dem Auslaufen aus Makassar war die Mannschaft dazu übergegangen, sie einfach »Koch« zu rufen. So fiel es allen leichter, die Tatsache zu ignorieren, dass sie eine Frau war und eine weiße noch dazu. Kaum einen Tag später hatte ihr neuer Name auch den Kapitän erreicht, der die Bezeichnung mit einer Mischung aus Spott und Erleichterung übernahm.
»Hallo, Ah Tee«, begrüßte sie den Mann. »Falls du hungrig bist, muss ich dich enttäuschen. Das Curry ist noch nicht fertig.«
»Du kochst uns ein Curry?« Begeistert schnupperte er. »Das riecht wunderbar.« Er schob sich ganz herein. »Brauchst du Hilfe?«
Leah lachte. »Scher dich fort, das ist meine Aufgabe. Kapitän Goh wird dir eins überziehen, wenn er dich nicht auf deinem Posten vorfindet.«
»Ich habe frei. Komm, reich mir ein Messer.«
Im Laufe der nächsten Stunde fanden noch zwei weitere Matrosen den Weg in die Kombüse. Die Männer suchten oft Leahs Nähe, um sie über das Leben der Weißen auszufragen. Als sich auch noch herausstellte, dass ihre seltsame Köchin viele
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