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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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gegenüberliegenden Ufer näherte sich das zukünftige Rathaus seiner Vollendung. Henry gefiel der strenge klassizistische Stil mit seinen Säulen, Rundbögen und dreieckigen Giebelfeldern, der so erstaunlich gut mit der üppigen tropischen Vegetation harmonisierte.
    Er drehte sich um und ließ den Blick über die wenigen, aber geschmackvollen Möbel aus dunklem Tropenholz schweifen. Eine Punkah, ein per Seilzug von einem vor der Tür sitzenden Jungen betriebener großer Fächer, sorgte für einen erfrischenden Luftzug. »Und ein repräsentatives Kontor hast du ebenfalls«, knüpfte er übergangslos an seine erste Bemerkung an. Er griff wahllos ein ledergebundenes Kassenbuch von einem Bord und blätterte angelegentlich darin herum. Friedrich beobachtete unsicher sein Tun. Henry klappte das Buch zu und setzte sich auf einen Besucherstuhl. Er wartete, bis auch Friedrich auf seinem gepolsterten Sessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch Platz genommen hatte.
    »Da du mich nicht eingeladen hast, musste ich von selbst vorbeikommen«, eröffnete Henry das Gespräch. »Es ist mir nicht entgangen, dass du wenig erfreut über meinen Besuch bist, und ich frage mich seit Tagen, woran es liegen mag. Wir haben uns immerhin beinahe drei Jahre nicht gesehen.« Er machte eine Pause, forschte im Gesicht des Freundes. Friedrich wich ihm aus, schob stattdessen seine Schreibutensilien hin und her und schichtete fahrig das Durcheinander auf dem Schreibtisch zu sauberen Papierstapeln. Henry klopfte auf das Kassenbuch. »Ich vermute, die Lösung ist hier zu finden. Soll ich danach suchen, oder erzählst du mir, was los ist?«
    »Du darfst nicht …«
    Henry unterbrach ihn. »Doch, ich darf. Als stiller Teilhaber von
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, so klein die Anteile auch sein mögen, bin ich ermächtigt, jederzeit Einsicht in die Bücher zu nehmen.«
    Friedrich schien zu schrumpfen. Mit hängenden Schultern saß er in seinem viel zu großen Sessel. Henry vermutete seit geraumer Zeit, dass Friedrich in Schwierigkeiten war; seit über einem Jahr hatte er keinerlei Post von ihm erhalten, geschweige denn einen Rechenschaftsbericht. Doch der Grad der Verzweiflung in den Zügen seines Freundes entsetzte ihn. Die Situation war offensichtlich sehr ernst. Johannas Antlitz flammte unvermutet vor seinem inneren Auge auf. Sie hatte seit der Heirat viel von ihrer Unbefangenheit verloren; in unbeobachteten Momenten zeichnete sich Enttäuschung und Bitterkeit, aber auch Ratlosigkeit auf ihrem Gesicht ab. Ob sie von Friedrichs Problemen wusste? Eine warme Welle der Zuneigung wallte in ihm auf, sowohl für Johanna, die alles Glück dieser Welt verdient hatte, als auch für das zusammengesunkene Häufchen Elend vor ihm. Mit seinen blonden Locken, den himmelblauen Augen und der schlanken Gestalt kam ihm Friedrich plötzlich wie ein Kind vor.
    »Friedrich, ich bin dein Freund«, sagte Henry mit fester Stimme. »In dieser Eigenschaft bitte ich dich, mir alles, wirklich alles zu sagen, was das Wohlergehen deiner Firma und deiner Familie gefährdet. Was auch passiert ist, ich werde dir helfen, dein Leben wieder auf Kurs zu bringen.«
    Friedrichs Augen flackerten, und endlich wagte er es, Henry ins Gesicht zu sehen. »Ich bin froh, dass du hier bist«, flüsterte er. »Ich hatte Angst vor dem Moment, doch nun …« Es gelang ihm nicht, den Satz zu beenden. Schluchzen schüttelte ihn, Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Er barg das Gesicht in den Händen. Henry sprang auf und strich Friedrich hilflos über die Schulter. Er fand es befremdlich, einen Mann weinen zu sehen, andererseits war er wohl der einzige Mensch auf der Welt, in dessen Gegenwart sich der Freund Tränen erlauben konnte.
    Der Ausbruch dauerte nur kurz. Friedrich wischte sich über die Augen und setzte sich steif und aufrecht auf die Sesselkante. Emotionslos, so als spräche nicht er selbst, leierte er die Unglücksserie des letzten Jahres herunter. Mit zunehmender Bestürzung erfuhr Henry von Chartern auf Schiffen, die havariert oder von Piraten aufgebracht worden waren, von einer Ladung verschimmeltem Kaffee, von minderwertiger Seide und zerbrochenem Porzellan. Ihm war klar, dass schon die Hälfte jener Unglücksfälle ausgereicht hätten, ein wesentlich größeres Handelshaus in die Knie zu zwingen. Henry wusste in etwa, wie hoch das Startkapital seines Freundes gewesen war, hinzu kamen seine eigenen Einlagen. Die Summe nahm sich kläglich aus gegen die immensen Verluste. Friedrich musste seine

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