Die Insel der Orchideen
sogar ihren Zorn vergaß. »Was tun Sie denn hier?«
»Ich bewundere Ihre Kunst.« Mit nach Verzeihung suchender Miene lächelte er sie an. Er musste Ende zwanzig sein und war von bemerkenswerter Hässlichkeit. Sein Gesicht, hager und von einer enormen, obendrein gebrochenen Nase dominiert, wirkte beinahe wie eine Karikatur, doch all dieser Mängel zum Trotz fühlte sich Leah auf Anhieb von seiner jungenhaften Dreistigkeit und den fröhlichen hellblauen Augen eingenommen. Sie stemmte sich gegen die aufkeimende Sympathie. Der Umgang mit Europäern zog nur Ärger nach sich.
»Sie folgen mir schon seit dem Morgen«, sagte sie scharf. »Glauben Sie, ich hätte es nicht bemerkt? Und glauben Sie, ich könnte dieses Verhalten entschuldigen?«
Wenn es irgend ging, wurde seine Miene noch schuldbewusster, doch in seinen Augen blitzte der Schalk.
»Sie haben mich fasziniert«, sagte er. »Anfangs dachte ich, Sie seien Chinesin.«
Leah ergriff ihre Tasche und wandte sich zum Gehen. »Dann betrachten Sie mich auch weiterhin als Chinesin. Außerdem würde ich es begrüßen, wenn Sie sich Ihrer guten Kinderstube besännen und davon abließen, einer Dame, sei sie Europäerin oder Asiatin, nachzusteigen. Guten Tag.« Sie ließ den Mann stehen und schritt, ohne sich noch einmal umzudrehen, zum Ausgang des Hofs. Sie wusste, dass der Rothaarige ihr nachging. Es würde nicht einfach sein, ihn abzuschütteln. Wenn er nicht ohnehin schon herausbekommen hatte, wo sie wohnte.
* * *
Leah spähte vorsichtig aus dem angelehnten Fensterladen ihres Zimmers. Halb belustigt, halb verärgert schüttelte sie den Kopf, als sie den impertinenten Engländer unter den Arkaden gegenüber entdeckte. Er bewachte den Eingang des Hauses seit geschlagenen drei Tagen, obwohl sie ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie seine Bekanntschaft nicht wünschte. Sollte er sich doch weiterhin die Beine in den Bauch stehen! Ihm war glücklicherweise bisher entgangen, dass das Haus über einen zweiten Ausgang zur rückwärtigen Gasse verfügte, die den Bewohnern als Kinderspielplatz, zum Geschirrspülen und Wäschetrocknen diente.
Leah schnappte sich die Tasche mit den Zeichenutensilien. Sie war spät dran und musste sich beeilen, den Termin mit einem reichen chinesischen Händler und seiner Konkubine einzuhalten, die sich von ihr portraitieren lassen wollten. Sie schaffte es gerade rechtzeitig und wurde mit ausgesuchter Höflichkeit in einen prächtig eingerichteten Salon geführt. Die Portraitsitzung verlief zu allseitiger Zufriedenheit. Nach zwei Stunden versprach Leah, in drei Tagen wiederzukommen und die Zeichnungen fertigzustellen. Der Chinese stellte ihr in Aussicht, auch seine Hauptfrau und Kinder zeichnen zu lassen. Gut gelaunt trat sie wieder auf die Straße – und rannte dem rothaarigen Engländer direkt in die Arme.
»Versuchen Sie gar nicht erst, vor mir davonzulaufen.«
»Ich schreie!«
»Ich habe nichts anderes erwartet und werde behaupten, Sie seien meine Schwester, die vor einiger Zeit ausgerissen ist und zu ihrer besorgten Familie zurückgeführt werden soll.«
Sein Grinsen entwaffnete sie. »In Ordnung«, seufzte sie. »Sie haben drei Minuten Zeit, Ihr Anliegen vorzutragen.«
»Vielen Dank. Allerdings hoffe ich auf mehr als drei Minuten. Ich würde Sie gern zum Essen einladen. Etwas Chinesisches wäre mir recht.«
Leah musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Trotz seiner Aufdringlichkeit ging keinerlei Bedrohung von ihm aus. Wider Willen musste sie sich eingestehen, dass er sie zu interessieren begann. Außerdem gefiel ihr, wie wenig wert er auf sein Äußeres legte. Sein Sakko, ohnehin überflüssig in der Hitze, hatte er leger über die Schulter geworfen, die weißen Hosen waren zwar frisch gewaschen, jedoch ungeplättet. Als sie mit ihrer Begutachtung bei seinen Füßen ankam, stutzte sie.
»Sie tragen asiatische Sandalen?«
»Ich bin Ihrem Beispiel gefolgt«, sagte er nonchalant. »Natürlich kann ich mich im Hotel so nicht blicken lassen, daher ziehe ich mich heimlich im Hotelgarten um.« Wieder lachte er dieses jungenhafte Lachen, das seine hässlichen Züge auf magische Weise anziehend machte. »An einen chinesischen Anzug oder einen malaiischen Sarong habe ich mich allerdings noch nicht herangewagt.«
»Ich kenne einen guten Schneider.« Leah gab sich alle Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, doch die Heiterkeit platzte einfach aus ihr heraus und blies für einen winzigen Moment die schweren Wolken beiseite, die
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