Die Insel der Orchideen
weiteres Mal über die Bordwand, und ein Schauder überlief sie. Es war entsetzlich tief. Sie konnte beim besten Willen nicht erwarten, dass sich jemand, auch Friedrich nicht, voller Freude dort hinunterstürzen würde. Farnell hatte es im Augenblick höchster Not getan, und sie war davon überzeugt, dass auch von Trebow nicht zögern würde, ihr zu Hilfe zu eilen. Sie schob die Gedanken beiseite und lenkte das Gespräch zurück auf das Ausgangsthema.
»Verraten Sie mir, was es mit dem Schimmer auf sich hat?«
»Das Leuchten wird von winzigen Meerestieren und Algen erzeugt.«
»Wie prosaisch. Da gefällt mir meine eigene Erklärung besser.«
»Und die wäre?«
»Meerjungfrauen haben unser Schiff geschmückt.«
Gemeinsam betrachteten sie das Schauspiel. Kurz darauf eroberte die Sonne in schwindelerregendem Tempo den Himmel über dem Dschungel der malaiischen Küste. Sie bereitete dem bezaubernden Spuk ein Ende und zerrte unbarmherzig Johannas Alltagssorgen aus dem Schatten hervor. Friedrich von Trebow bemerkte ihren Stimmungsumschwung und erkundigte sich mitfühlend nach ihrer Mutter.
Sie seufzte. »Sie ist sehr erschöpft. Der Arzt meint, er hätte selten einen so schlimmen Fall von Seekrankheit erlebt. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Konstitution nie gut war. Der Vater hat deshalb entschieden, dass wir vorerst in Singapur bleiben.«
»Es ist sicher das Beste.«
»Ja.« Johanna wandte sich ab, damit er ihre traurige Miene nicht sah. In wenigen Stunden würde sie in Singapur von Bord gehen, während er seine Reise nach Hongkong fortsetzte. Wie sollte sie die Trennung aushalten? Ein Ring legte sich um ihren Brustkorb, bis sie beinahe keine Luft mehr bekam. Durfte sich Liebe so anfühlen, so beklemmend? War dies der Preis für die wunderschönen Wochen an Bord?
»Es ist kein Abschied für immer, liebstes Fräulein Uhldorff«, sagte Friedrich von Trebow leise. »Sie werden sehen, Ihre Mutter erholt sich schnell. Und dann kommen Sie wie der Wind zu mir nach Hongkong.«
»Zu Ihnen? Papa wird mit uns nach Kanton gehen.« Ihr versagte die Stimme.
Plötzlich spürte sie seine Hände auf ihren Schultern, und ihr Herz begann zu klopfen. Er drehte sie zu sich herum. Ihre Gesichter waren sich so nah wie nie zuvor. Johannas Blick verschwamm, unaufhaltsam bahnten sich die Tränen einen Weg ihre Wangen hinab. Friedrich von Trebow hielt eine von ihnen mit der Fingerspitze auf und hauchte einen Kuss auf Johannas Stirn.
Als sei er erschrocken über den eigenen Mut, trat er hastig einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie meine Dreistigkeit.« Er räusperte sich. »Sie sind die wunderbarste Frau, die mir je begegnet ist. Ich werde die Tage zählen, bis ich Sie wiedersehen darf.«
Es kostete sie Überwindung, sich nicht in seine Arme zu werfen, zu süß war seine Berührung, zu überwältigend der Schauer, den sein vogelflügelsanfter Kuss durch ihren Körper gejagt hatte. Sie straffte die Schultern und sah ihm direkt in die Augen. »Ich werde Ihnen diese Unverschämtheit niemals vergeben, Herr von Trebow.«
Er blinzelte nicht. »Damit habe ich auch nicht gerechnet, Fräulein Uhldorff. Ihr Vater wird mich zum Duell herausfordern.«
»Er wird Sie mit seinem Gesangbuch bewerfen.«
»Ich werde es tragen wie ein Mann.«
»Das sind Sie mir schuldig.« Sie prustete los. Er stimmte ein, und gemeinsam lachten sie ihre Traurigkeit über die bevorstehende Trennung fort.
Als Johanna wenig später an Friedrich von Trebows Arm zum Speisesaal schlenderte, sah sie Henry Farnell im Schatten eines Beiboots stehen. Sie grüßte in seine Richtung, doch er tat, als hätte er sie nicht bemerkt. Auf dem Weg zum Speisesaal hatte sie das unangenehme Gefühl, seine Blicke bohrten sich in ihren Rücken. Unmerklich schüttelte sie sich. Warum gab sich der fröhliche, gewandte Friedrich von Trebow bloß mit diesem unhöflichen, unnahbaren Farnell ab?
* * *
Sobald Leah das kläglich schlechte Mittagessen hinuntergeschlungen hatte, hielt es sie nicht mehr im Speisesaal. Heute würden sie an Land gehen! Endlich der Enge des Schiffes und den langweiligen Gesprächen entkommen. Natürlich bangte sie um die kranke Mutter, doch sie musste sich eingestehen, dass ihr der Zwangsaufenthalt in Singapur gelegen kam. Noch eine Woche an Bord, und sie hätte dem erstbesten Langweiler, der ihr einen arroganten Vortrag über die Minderwertigkeit der Eingeborenen aufzudrängen versuchte, die Augen ausgekratzt.
Sie warf einen Blick in die Runde. Der Vater
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