Die Insel der Orchideen
nach, als er, den Trubel nutzend, unbehelligt von weiteren Gratulanten im Gang zum geschlossenen Deck verschwand. Sie konnte sich einfach keinen Reim auf sein abweisendes Verhalten machen, denn bei ihrer ersten Begegnung, an dem Tag, als er in Kalkutta an Bord gegangen war, hatte sie ihn als zwar ruhigen, jedoch durchaus offenen und umgänglichen Menschen kennengelernt. Friedrich von Trebow hatte ihn ihrer Familie als einen Freund aus Londoner Zeiten vorgestellt, der ihm vor einigen Monaten im Auftrag des Handelshauses nach Indien vorausgereist war und nun ebenfalls in Hongkong sein Glück machen wollte.
Sie hatte sich gefreut, einen Freund Friedrichs kennenzulernen, doch nach einem unterhaltsamen ersten Abend hatte sich sein Verhalten ihr gegenüber völlig verändert. Kaum dass er die Zähne in ihrer Gesellschaft auseinanderbekam, wenn er sie nicht ohnehin mied; im Verlauf der letzten Wochen hatten sie kaum mehr als Begrüßungsfloskeln getauscht. Manchmal ertappte sie ihn dabei, wie er sie beobachtete, die dunklen Augen umwölkt. Manchmal vermeinte sie Traurigkeit in ihnen zu erkennen, dann jähe Leidenschaft oder Wut, doch sie tat es als Hirngespinste ab. Farnell mochte sie nicht, so einfach war das. Sie hätte gern gewusst, was sie sich hatte zuschulden kommen lassen, doch dazu hätte sie ihn zur Rede stellen müssen. Und dafür brachte sie nicht den Mut auf.
»Da bist du ja!«
Johanna fuhr herum. Hinter ihr stand der Vater, sein Gesicht von Sorge gezeichnet. Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen.
»Ich hätte Mama nicht allein lassen dürfen.« Sie wollte davonhasten, aber der Vater hielt sie zurück.
»Bleib. Ich komme gerade aus der Kabine. Es geht ihr unverändert schlecht. Der Schiffsarzt meint, sie müsse so bald wie möglich festen Boden unter die Füße bekommen. Wenn ich sie mir ansehe, bekomme ich es mit der Angst zu tun.« Hermann-Otto Uhldorff seufzte. »Ich mache mir Vorwürfe, sie zu dieser Reise überredet zu haben.«
»Wir haben sie gemeinsam überredet«, erinnerte Johanna ihn.
Ein trauriges Lächeln flog über sein Gesicht. »Meine liebe, mitleidige Tochter. Versuche nicht, dir meine Bürde aufzuladen.« Er fuhr sich durch das verschwitzte Haar. »In zwei Tagen erreichen wir Singapur. Wir werden die Reise dort unterbrechen, damit sie zur Ruhe kommt. Ich habe gehört, dass in der Stadt bereits einige hundert Europäer leben. Auch Frauen. Sie wird sich sicher wohl fühlen.«
»Und deine Missionarsstelle?«
Er zuckte die Achseln. »Die Chinesen müssen eben noch etwas länger auf die Erlösung warten. Aber erzähl, was hier oben geschehen ist.«
Johanna schilderte ihm in kurzen Worten das Unglück und Farnells Rolle bei der Rettung des Matrosen. Hermann-Otto Uhldorffs Augen leuchteten auf. »Ein Teufelskerl, dieser Farnell. Wird es weit bringen.« Dann sah er sich um. »Ich glaube, wir müssen uns auf die Suche nach deiner Schwester machen. Vermutlich hat sie die allgemeine Aufregung genutzt, um sich auf eigene Faust den Maschinenraum anzusehen oder etwas ähnlich Törichtes.«
2
Mai 1856
Z wei Tage nach den aufregenden Ereignissen um den Matrosen trieb es Johanna schon vor Sonnenaufgang an Deck. Sie war nicht die Erste – einige Passagiere hatten es sich bereits in Korbstühlen bequem gemacht und genossen die morgendliche Kühle, die nur allzu bald einer feuchten Hitze weichen würde. Da ihr nicht der Sinn nach einem Gespräch stand, grüßte sie nur kurz und stellte sich etwas abseits.
Die
Ganges
pflügte ruhig durch die See. Als Johanna die Bordwand hinunterspähte, glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen: Die Bugwelle leuchtete und funkelte, wie es sonst nur dem Firmament in einer klaren Nacht anstand. Sie beugte sich weiter vor, um besser sehen zu können. Das blaue Leuchten schien seinen Ursprung im Wasser zu haben. Seltsam.
»Algen«, sagte eine Männerstimme neben ihr.
Johanna richtete sich abrupt auf. »Herr von Trebow! Wie haben Sie mich erschreckt.«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ihre Turnübung an der Reling wirkte allerdings nicht minder erschreckend. Sie hätten leicht das Gleichgewicht verlieren können.«
»Dann hätten Sie mir nachspringen müssen, um mich zu retten.«
Johanna hatte die Bemerkung als Scherz gemeint, doch nun stellte sie irritiert fest, dass sich Friedrich von Trebow verlegen wand. »Ja, das hätte ich wohl müssen«, murmelte er.
Sie biss sich auf die Lippen. Sonderlich überzeugend hatte er nicht geklungen. Sie spähte ein
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