Die Insel der Orchideen
große Schiffe lagen auf Reede, europäische und amerikanische Briggs und Schoner schaukelten Seite an Seite mit malaiischen Prauen und dickbäuchigen chinesischen Dschunken. Dazwischen tänzelten Bugis-Boote auf dem Wasser wie kapriziöse Ballerinas; die schnellsten Segler des Archipels, wie Henry bemerkte, bemannt mit den unerschrockenen Männern von Celebes. Vor lauter Masten, Segeln und dem ein oder anderen Schornstein eines Schaufelraddampfers war Singapur kaum zu erkennen. Fasziniert beobachtete Leah das Treiben auf dem Meer. Eine Armada von Leichtern und Sampans umkreiste die großen Handelsschiffe, und je dichter der Wind die
Ganges
dem Tanz der Boote entgegenschob, desto mehr Einzelheiten nahm Leah wahr: die stolzen Flaggen aller Länder des Erdballs, die grimmigen Blicke der auf den Bug der Dschunken gepinselten Augen, die Bambusstreben der chinesischen Mattensegel, die fremden Trachten der Schiffsbesatzungen. Flüche und Lieder in allen Sprachen Asiens, Europas und Ozeaniens flogen übers Wasser, eine Glocke kündigte das nahe Auslaufen eines Schiffes an, Kapitäne und Aufseher brüllten Befehle, die Ankerketten knarzten und die Taue knallten. In Leahs Ohren erklang die lebenspralle Kakophonie süßer als jede Meisterkomposition.
»
Das
ist Singapur?«, rief sie so laut, dass sich die Köpfe der anderen Passagiere zu ihr drehten. Das Deck hatte sich gefüllt, denn auch das Dessert hatte nicht mit dem Spektakel der Einfahrt konkurrieren können. »Es ist fantastisch!«
Der Vater trat neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter. Leah schmiegte sich an ihn. »Ich mag vielleicht damit hadern, ein Mädchen zu sein«, sagte sie leise, »doch damit, deine Tochter zu sein, hadere ich nicht. Ohne dich hätte ich von all diesen Wundern nur träumen können.«
Kurz darauf rasselte der Anker der
Ganges
in die Tiefe. Sofort steuerten einige Leichter auf das Schiff zu, um Post und Waren entgegenzunehmen. Der Kapitän kam aufs Passagierdeck und bat diejenigen, deren Reise in Singapur zu Ende war, sich fürs Ausbooten fertig zu machen.
»Dann wollen wir mal«, sagte Henry Farnell und schickte sich an, seinen Aussichtsposten zu verlassen.
»Sie gehen von Bord?«, fragte Leah erstaunt.
»Ja, Friedrich hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Die
Ganges
läuft erst morgen Mittag wieder aus, und es tut gut, sich ein wenig die Beine zu vertreten.«
Leah sah sich um und entdeckte einige Meter entfernt ihre Schwester, selbstverständlich an von Trebows Seite. Sie strahlte übers ganze Gesicht. Offensichtlich hatte er ihr seinen Plan schon eröffnet.
Johannas Anblick rührte Leah ganz unerwartet. Ohnehin größer als die meisten Frauen, schien die Schwester in letzter Zeit noch gewachsen zu sein, und die Sonne zauberte in ihr sonst so unauffälliges dunkelblondes Haar goldene Sprenkel. Auch wenn Friedrich von Trebow ihr unsympathisch war, gönnte Leah Johanna ihr Glück von Herzen. Nie hatte sie die Ältere so gelöst gesehen wie in den letzten Tagen, nie war sie ihr lebendiger vorgekommen. Sie hatte Johanna bisher als Langweilerin empfunden, doch mit einem Anflug von Scham erkannte Leah plötzlich, dass sie keinen geringen Anteil daran hatte. Wie oft hatte sie sich vor ungeliebten Haushaltspflichten gedrückt, wie oft hatte sie die Anordnungen der Mutter unterlaufen, wie oft hatte sie Johanna als Spielverderberin abgetan, wenn in Wahrheit die Schwester nur die Rolle der Mutter auszufüllen versuchte, wo diese nicht die Kraft dazu hatte! Reuig nahm sich Leah vor, Johanna in Zukunft stärker unter die Arme zu greifen.
»Ein hübsches Paar«, sagte Hermann-Otto Uhldorff und drückte Leah noch ein wenig fester an sich.
Vater hat recht, dachte sie, die beiden passen gut zusammen. Johanna liebt ihn, meine Eltern schätzen ihn, also kann Friedrich von Trebow gar nicht verkehrt sein. Sie würde sich trotz allem große Mühe geben müssen, ihn zu mögen.
Wenig später saß Leah mit einem Dutzend weiterer Passagiere im Beiboot der
Ganges
und erhaschte einen ersten unverstellten Blick auf die junge Stadt. Links der Mündung des Singapur-Flusses erstreckte sich eine lange, von dicht an dicht stehenden Häusern gesäumte Bucht. Leah entdeckte ein außerordentlich verziertes Dach, und auf ihre Frage hin erklärte Henry Farnell, es handle sich um einen Götzentempel der Chinesen. Ihr Interesse war geweckt: Diesen Tempel musste sie unbedingt besuchen.
Rechts des Flusses erstreckte sich das europäische Viertel. Weiße Bungalows
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