Die Insel der Orchideen
und zwei Kirchtürme leuchteten aus üppigem Grün vor dem Hintergrund des Regierungshügels, der mit dem bescheidenen Wohnhaus des Gouverneurs gekrönt war, und nahe am Wasser reihten sich einige Gebäude mit beeindruckenden Portikos um einen weiten Platz. Es sah einladend aus, doch Leah fühlte sich von dem Gedrängel auf der linken Flussseite wesentlich stärker angezogen.
Je näher sie zur Flussmündung kamen, desto dichter wurden der Bootsverkehr und desto heftiger leider auch der Gestank von rottendem Fisch und sonstigem Abfall. Johanna und die Mutter drückten sich bereits mit angeekelten Mienen ihre Tücher vor die Nase. Leah wollte es ihnen gleichtun, vergaß das Vorhaben aber angesichts der unzähligen aufregenden Eindrücke. Am linken Ufer erhoben sich die Kontore der in Singapur ansässigen Händler, feine zweigeschossige Steinhäuser, »Godowns« genannt. Zähe chinesische Lastenträger mit hin und her schwingenden Zöpfen wuchteten Warenballen von den Booten in die Lagerhäuser. Kaum war ein Boot leergeräumt, wurde es schon wieder mit neuen Waren beladen, bestimmt für die wartenden Schiffe draußen auf dem Meer. Mitten durch den Trubel schritten chinesische Schreiber und europäische Handelsherren in weißen Leinenanzügen, wild gestikulierend die einen, gelassen die anderen.
Es kostete ihren Bootsführer einiges Geschick, sich durch Hunderte Leichter und mattengedeckte Sampans zu drängeln, die den Fluss verstopften, doch letztendlich landeten sie sicher am nördlichen Flussufer unterhalb einer prachtvollen Villa. Einige überdachte, mit großen Fenstern versehene, kastenförmige Kutschen, mehr praktisch als elegant, standen bereit, die Neuankömmlinge zu ihren Hotels oder Bungalows zu bringen. Der Kutscher empfahl ihnen eine neueröffnete Pension, und kaum fünf Minuten später zügelte er sein Pferd vor einem soliden Haus in der sauber gepflasterten High Street.
Die Uhldorffs, Friedrich von Trebow und Henry Farnell waren noch im Aussteigen begriffen, als ein Mann mit einem prächtigen Backenbart aus dem Haus stürzte, sich als Mr Goymour vorstellte und sie überschwänglich zu ihrer Wahl beglückwünschte. Ohne Luft zu holen, pries er die Vorzüge seines Etablissements, namentlich die luftigen, ordentlichen Zimmer sowie die – ein Zwinkern zu den Herren – exzellenten Billard-Tische und zwei Kegelbahnen, die angeblich alle anderen Bahnen der Stadt in den Schatten stellten.
Nachdem der Vater den Preis für einen einmonatigen Aufenthalt ausgehandelt hatte, bezogen sie ihre Zimmer.
»Weißt du was?«, fragte Leah, nachdem Johanna die Tür hinter ihnen zugezogen hatte.
Johanna schüttelte den Kopf.
Leah sprang mit einem Satz aufs Bett. »Das ist das erste richtige Bett seit fünf Wochen!«
* * *
Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht und frisch gemacht hatten, begaben sich Johanna und Leah auf die weitläufige Veranda der Pension. Nach und nach trafen auch die Eltern sowie Friedrich von Trebow und Henry Farnell ein. Die kurze Dämmerung wich der Nacht, kleine Echsen, Cicaks genannt, scharten sich um die Lichtquellen und schnappten nach Motten, die in großer Zahl herumflatterten. Mr Goymour bat sie zum Dinner in den Speisesaal.
Die erste Mahlzeit in Singapur übertraf Johannas Erwartungen bei Weitem. Der chinesische Koch des Etablissements servierte neben einigen Gemüsetellern ein äußerst schmackhaftes Fischgericht mit Limetten und ihr unbekannten Gewürzen. Auch Leah, ihrem Vater, von Trebow und Farnell schmeckte es, lediglich Alwine Uhldorff stocherte appetitlos in ihrem Essen. Johanna betrachtete besorgt das viel zu blasse und hagere Gesicht ihrer Mutter. Die Reise hatte ihr fürchterlich zugesetzt.
Zärtlich legte sie eine Hand auf die Schulter ihrer Mutter. »Möchtest du dich zurückziehen? Soll ich dich nach oben begleiten?«
Alwine Uhldorff rang sich ein Lächeln ab. »Nein, mein Mädchen, ich werde noch ein wenig sitzen bleiben. Ich möchte doch bei der Überraschung nicht fehlen.«
»Überraschung?«
»Oh, ich habe nichts gesagt, Liebes.«
Die seltsame Andeutung verblüffte Johanna. Die Mutter hatte eigentlich nichts für Überraschungen übrig. Sie hätte gern mehr erfahren, doch bevor sie weiter in sie dringen konnte, betrat ein Hausdiener den Speisesaal, der eine üppige Fruchtschale vor sich hertrug. Innerhalb weniger Minuten füllte sich der Raum mit Lachen, als sich die Uhldorffs mit den fremdartigen Früchten abmühten. Johanna fand es ein wenig seltsam, dass
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