Die Insel der Orchideen
verdient.« Ohne ein weiteres Wort strebte er zurück in den Saal und scheuchte dabei die sensationslüsternen Damen der Gesellschaft vor sich her. Johanna sah ihm sprachlos nach. Ihr fröstelte trotz der tropischen Temperaturen angesichts der Kälte, die in Bowies Blick gelegen hatte. Unschlüssig spähte sie Friedrich nach, dessen schwankender Schatten sich in Richtung der hölzernen Fußgängerbrücke nahe der Town Hall bewegte. Ihr Platz war an seiner Seite, doch als Mercy sie unterhakte und wieder in den Saal führte, war sie froh darum. Sie wollte noch ein Glas Champagner trinken und wenigstens für ein paar Stunden ihr Elend vergessen.
Als Johanna, Mercy und Andrew drei Stunden später in der Waterloo Street vorfuhren, stand eine Droschke vor dem Bungalow der von Trebows. Sämtliche Gaslampen im Haus waren aufgedreht. Voller böser Vorahnungen sprang Johanna auf die Straße und hastete durch den dunklen Garten. Bevor sie die Veranda erreicht hatte, riss Ping schon die Tür auf.
»Ich habe Doktor Ferguson holen lassen. Mrs Uhldorff ist ohnmächtig geworden.«
Johanna stürmte die Treppe hinauf. Gerade verpackte der Arzt seine Utensilien in eine Ledertasche.
»Sie lebt«, sagte er.
Johannas Herz schlug bis zum Hals, als sie neben das Bett trat. Die Mutter sah entsetzlich aus. Kalkweiß und eingefallen das Gesicht, ihr Brustkorb hob und senkte sich nur langsam, der Atem rasselte.
Der Arzt schüttelte leicht den Kopf. »Sie wird es nicht schaffen, Mrs von Trebow. Der Krebs ist eine sehr heimtückische Krankheit der Zellen. Zwar ist die Wissenschaft den Ursachen auf der Spur, aber eine andere Behandlungsmöglichkeit als das chirurgische Entfernen der Geschwülste hat sie noch nicht zu bieten.« Er hob die Hand, um Johanna am Reden zu hindern. »Für eine Operation ist es zu spät. Wenn ich die Symptome richtig deute, sind ihre inneren Organe befallen. Uns bleibt nur noch, ihr Leiden durch Morphium zu lindern. Es tut mir furchtbar leid.«
Johanna starrte den Mann an. »Was soll ich tun?« Ihre Stimme glich einem kläglichen Krächzen. Warum nur hatte sie ihre sterbende Mutter allein gelassen?
Doktor Ferguson fasste sie sanft bei den Schultern. »Sie machen sich Vorwürfe, auf den Ball gegangen zu sein, nicht wahr?«
»Ja.«
»Das dürfen Sie nicht. Es war ja nicht vorauszusehen, dass sich der Zustand Ihrer Mutter so rapide verschlechtert. Ruhen Sie sich ein paar Stunden aus, vertrauen Sie auf Ihre Haushälterin. Sie ist eine patente Person und wird Sie wecken, sobald es nötig ist.« Er reichte ihr die Hand und verabschiedete sich.
Ausruhen? Wie sollte sie Schlaf finden? Stattdessen bat Johanna Andrew, der mit Mercy in der Tür stand, ihr einen Sessel aus dem Salon zu bringen. Sie würde bei ihrer Mutter ausharren, so lange Gott sie noch auf der Erde weilen ließ.
* * *
Das laute Trappeln von Vögeln auf dem Dach weckte Johanna aus einem traumschweren Dämmerschlaf. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Im Osten färbte sich der Himmel violett. In wenigen Minuten würde die Sonne über den Horizont schnellen und die Nacht vergessen machen.
»Johanna?«
»Mama! Du bist wach?«
»Schon eine ganze Weile, aber ich wollte dich nicht wecken. Die Schmerzen sind sehr stark.«
»Warte, ich gebe dir etwas Morphium.«
»Nein danke. Ich will es nicht, zumindest noch nicht. Jetzt brauche ich einen klaren Kopf.« Sie keuchte.
Der Anblick von Alwines schmerzverzerrtem Gesicht schnürte Johanna die Kehle zu. »Möchtest du wirklich nichts?«
»Nein. Setz dich aufs Bett und hör mir zu. Ich habe kaum noch Zeit.«
Johanna gehorchte. Vorsichtig nahm sie die kalten Hände der Mutter in ihre.
Alwine versuchte, ihren Atem zu beruhigen. »Ich habe schwer gesündigt, Tochter«, sagte sie. »Auf meiner Seele lastet mehr, als ein guter Mensch wie du sich vorstellen kann. Es widerstrebt mir, dich damit zu belasten, doch es ist nicht zu ändern. Ich habe mich an deiner Schwester versündigt, Johanna. Und ich bereue es unendlich.« Tränen traten ihr in die Augen, doch sie zwinkerte sie fort. »Ich habe mir nichts mehr gewünscht, als dass Leah zu uns zurückkehrt, dabei weiß ich nicht einmal, ob sie noch lebt.«
Johanna senkte den Kopf. Auch ihre Hoffnung, dass Leah irgendwo auf dieser Welt ein glückliches Leben führen mochte, war nie erloschen.
»Es geht ihr gut«, presste sie hervor. »So muss es einfach sein.«
Alwine hielt die Lider geschlossen; das helle Licht blendete sie. Johanna zog die Vorhänge zu.
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