Die Insel der Orchideen
Mutter?
Ohne Bertrand zu wecken, stahl sie sich ins Ankleidezimmer. Sie entzündete das Gaslicht, putzte sich hastig die Zähne und nahm das von der Zofe sorgfältig ausgebürstete Reitkostüm aus dem Schrank. Nichts eignete sich besser, die Dämonen der Nacht abzuschütteln, als ein morgendlicher Ausritt. Rasch zog sie sich an, schlüpfte in den Gang und in das dem ehelichen Schlafgemach gegenüberliegende Kinderzimmer. Thomas war bereits wach und lachte ihr unternehmungslustig entgegen. Ihr Herz wurde weit. Sie schloss den Jungen in die Arme, doch er zappelte sich frei, wollte sie begleiten. Leah nagte an ihrer Unterlippe, dann traf sie eine Entscheidung. Während sie ihrem Sohn warme Kleidung überstreifte, gebot sie ihm, ganz leise zu sein. Mit unterdrücktem Kichern ging er darauf ein.
Gemeinsam huschten Mutter und Sohn in den Stall. Leah sattelte ihre Stute, hob Thomas vor sich in den Sattel, und schon stoben sie über Feldwege in Richtung der Berge davon. Ein scharfer Wind fegte die Hügel des Lake District hinab und zerzauste Thomas’ rotgoldene Locken. Mutter und Sohn spürten kaum etwas davon, viel zu sehr genossen sie ihre gestohlene Freiheit. Über zwei Stunden tobten sie sich aus, bis der Hunger sie zurückzwang.
Sie wurden bereits erwartet. Leah hatte die Stute kaum vor den Stall gelenkt und Thomas auf die sichere Erde hinuntergelassen, als sich die Countess of Arliss auf der Vordertreppe zeigte. Leah ließ sich seufzend aus dem Sattel gleiten. Es bestand keine Hoffnung, dass ihre Schwiegermutter den Ausflug gutheißen würde; selbst auf die Entfernung strahlte die Haltung der Countess Missbilligung und Empörung aus. Thomas schob seine kleine Hand in die seiner Mutter. Als Leah sein Zittern bemerkte, stieg Wut in ihr auf. Das Kind an der Hand, die Schultern gereckt, ging sie auf ihre Schwiegermutter zu. Thomas war
ihr
Sohn,
sie
hatte zu entscheiden, was das Beste für ihn war. Trotzdem traf die Kälte im Blick der anderen sie bis ins Mark. Gemessenen Schrittes stieg sie die Treppe hinauf. Die Schwiegermutter hatte Leah, entgegen Bertrands Versicherungen, nie akzeptiert. Sie sah in ihr eine Erbschleicherin, die das Vertrauen ihres Sohnes missbrauchte. Selbst Thomas, der auf den Molukken in der Hütte einer Heilerin das Licht der Welt erblickt hatte und bereits anderthalb Jahre alt gewesen war, als sie nach England zurückkehrten, hatte die Countess nicht weicher gestimmt. Sie ließ keine Gelegenheit aus, ihre ungeliebte Schwiegertochter zu maßregeln. Weder passte ihr Leahs nachlässige Kleidung noch ihr Drang, sich in der freien Natur zu bewegen. Leahs Angewohnheit, sich in die Diskussionen der Männer einzumischen, empfand sie als schlicht skandalös. All dies hatte Leah achselzuckend ertragen, doch seit Monaten verschärften sich die Differenzen zwischen ihr und der Countess dramatisch. Kaum verging ein Tag, an dem Leah nicht mit ihrer Schwiegermutter aneinandergeriet, und immer drehte sich der Streit um Thomas. Thomas, der, ginge es nach der Countess, den lieben langen Tag still sitzen, Klavier und erste Buchstaben üben, manierlich essen und sich auf keinen Fall mit seiner Mutter draußen herumtreiben sollte.
»Das Frühstück ist abgeräumt«, sagte die Countess scharf. »Thomas, du kannst dich bei deiner Mutter dafür bedanken, dass du nun bis zum Lunch hungrig bleiben musst.«
Das Maß war voll. »Sie haben nicht darüber zu entscheiden, ob und wann mein Kind isst«, zischte Leah. Wutentbrannt, den verwirrten Jungen hinter sich herzerrend, stürmte sie in die große Eingangshalle und die Freitreppe hinauf. Bertrand, der oben auf der Treppe Zeuge der Szene geworden war, hielt sie auf. Er schob Leah in ihr Zimmer und übergab den Jungen der Obhut des Kindermädchens. Tröstend nahm er Leah in den Arm, doch sosehr sie auch in ihn drang, gegen seine Mutter wollte er sich nicht stellen, erklärte sich lediglich dazu bereit, als Vermittler aufzutreten.
Als er sich schließlich für den Tag verabschiedete, war Leah kaum besänftigt. Trotz seines oftmals jungenhaften Charmes war Bertrand ein besonnener Mann, und normalerweise schätzte sie ihn dafür. Heute allerdings kam sie nicht umhin, ihm genau diese Zurückhaltung als Schwäche auszulegen. Warum beugte er sich seiner Mutter, ohne das Wohlergehen seiner Frau und seines Sohnes im Auge zu behalten?
Kurz entschlossen ging sie in Thomas’ Zimmer, wo er gerade von der Kinderfrau auf gute Tischmanieren gedrillt wurde. Sie befahl der Frau brüsk,
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