Die Insel der Orchideen
sie allein zu lassen, und kniete sich vor ihren Sohn.
»Heute habe ich den ganzen Tag Zeit für dich. Was sollen wir tun?«
»Malen!« In seiner Miene spiegelten sich Freude und Erleichterung so deutlich, dass Leahs Wut erneut hochkochte. Was taten sie diesem kleinen Kerl mit ihrer überzogenen Disziplin nur an?
»Und was möchtest du malen?«
»Krabb… Krabb…« Seine noch ungelenke Zunge mühte sich vergeblich an dem Wort ab.
»Krabbelkäfer?«
»Genau! Im schönen Zimmer!«
Leah lachte befreit auf. Mit dem schönen Zimmer meinte Thomas ihr Studierzimmer, einen von oben bis unten mit Präparaten, Zeichnungen und Büchern vollgestopften Raum, dessen bloße Existenz ein weiterer Stachel im Fleisch der Countess war. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit echauffierte sie sich über die in ihren Augen ekelhafte Insektensammlung und Leahs Bemühungen, Darwins gotteslästerliche Thesen durch eigene Erkenntnisse zu stärken.
Für den Rest des Tages schloss sich Leah mit Thomas in diesem Wunderraum ein, zeigte ihm die Schaukästen mit den buntschillernden Käfern, ließ ihn durchs Mikroskop sehen und erzählte ihm Geschichten über die Wunder der Tropen, bis ihr vor Sehnsucht schier das Herz brach.
* * *
Kurz nachdem Alwine mit dem eilig herbeigeholten Reverend Keasberry unter vier Augen gesprochen hatte, fiel sie in Bewusstlosigkeit. Johanna und der Reverend wachten zwei Tage und zwei Nächte an ihrem Bett, aber sie kam nicht wieder zu sich. Am frühen Morgen des 28 . März 1867 tat Alwine Uhldorff, geborene Kowald, ihren letzten mühsamen Atemzug.
Johanna und der Reverend rührten sich nicht. Mit gefalteten Händen saßen sie neben dem Bett und sprachen stumme Gebete. Nichts störte die Stille, kein Rascheln, Trippeln oder Scharren drang aus Dach oder Wänden, als würden auch die Cicaks und Tokays, die Schlangen, Vögel und Affen den Schatten des Todes spüren und Alwine ihre Ehre bekunden.
Erst zwei Stunden nach Alwines Hinscheiden schob sich Hermann schüchtern ins Zimmer, die blonden Haare noch strubbelig vom Schlaf. Mit der ihm eigenen Bedächtigkeit trat der Achtjährige ans Bett seiner geliebten Großmutter und nahm still Abschied. Er erkannte den Tod ohne Erklärungen. Johanna zog ihn auf ihren Schoß. Gemeinsam setzten Mutter und Sohn die Totenwache fort, nachdem sich Reverend Keasberry zurückgezogen hatte.
Dank des Beistandes von Mercy und Henry verliefen die Vorbereitungen für die Beerdigung reibungslos und in der für die Tropen gebotenen Eile. Friedrich war meist außer Haus gewesen, es interessierte Johanna längst nicht mehr, wo und mit wem er seine Zeit verbrachte. Schon zwei Tage später versammelte sich die große Trauergemeinde auf der evangelischen Seite des Bukit-Timah-Friedhofs. Johanna stand steif neben dem Grab und nahm mit unbewegter Miene die Beileidsbekundungen entgegen. Sie fühlte sich leer und allein. Zu viert waren sie vor elf Jahren aufgebrochen, aufgeregt und voller Vorfreude, und nur sie war übrig geblieben.
Gegen Ende des langen Zuges, die heiße Sonne hatte die meisten Trauernden bereits vertrieben, schob eine katholische Nonne ein in Tränen aufgelöstes Mädchen von etwa sieben Jahren vor Johanna. Jeder Uneingeweihte musste das Kind mit seinen jetschwarzen Haaren und der Porzellanhaut für eine Chinesin halten, doch Johanna wusste es besser. Der Anblick des untröstlichen Mädchens bewegte etwas in ihr. Die gläserne Glocke, unter der sie sich seit Tagen bewegte, zersprang. Ungeachtet des schmutzigen Bodens kniete sie sich nieder und nahm die Kleine in die Arme. Endlich konnte auch sie weinen.
»Lily«, flüsterte sie, »möchtest du meine Tochter sein?«
18
August 1867 , fünf Monate später
E s war nur ein Streit über eine Kleinigkeit, doch Amelias Zorn auf Henry loderte noch immer, als sie mit den beiden Jungen und ihren Amahs durch die Botanischen Gärten spazierte. Wohl steckte die Agri-Horticultural-Society viel Geld und Mühe in die Anlage der Zier- und Schulgärten, doch Amelia empfand viele der üppig wuchernden Pflanzen als hässlich, manch eine Orchideensorte mit ihren fleischigen Blättern und viel zu grellen Blüten beinahe als vulgär. Außerdem war es heiß, unglaublich heiß. Mit keinem Wort hatte Henry damals in London die alles erdrückende Hitze erwähnt, weder Mücken noch anderes Getier, das einem den Alltag zur Hölle machte. Er hatte ihr ein Leben in Muße und gesellschaftliche Abwechslung versprochen, aber Himmel, woraus
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