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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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»Besser?«
    Statt einer Antwort begann die Mutter zu würgen. Johanna half ihr, sich aufzusetzen, und hielt ihr eine Schüssel vor den Mund. Keine der beiden kommentierte das schwarze Blut, das Alwine erbrach.
    »Johanna, wenn ich tot bin, musst du in den Convent gehen«, flüsterte Alwine. Johanna sah ihr an, welche Anstrengung sie das Sprechen kostete. »Frag dort nach Lily.«
    »Lily ist das kleine Mädchen, das du ganz besonders ins Herz geschlossen hast, nicht wahr? Soll ich sie holen lassen?«
    »Nein.« Plötzlich krallte die Mutter ihre Finger in Johannas Arm und versuchte sich aufzurichten. »Hattest du denn nie einen Verdacht?«
    »Wovon sprichst du, Mama?«
    »Lily. Ich spreche von Lily.«
    Schweigen senkte sich über Mutter und Tochter, während ihre Blicke ineinander versanken. Ein Schauer lief Johannas Rückgrat hinunter, als sie urplötzlich die monströse Lüge erfasste, die Alwine seit mehr als sieben Jahren aufrechterhielt.
    »Nun weißt du es«, sagte Alwine mit fester Stimme.
    »Sag es. Ich will es aus deinem eigenen Mund hören.« Johannas Stimme wurde schrill. Viel fehlte nicht, und sie hätte die Sterbende geschüttelt. »Wie konntest du damit leben?«
    Alwine versuchte ein schwaches Lächeln. »Gottes Gerechtigkeit mag lange auf sich warten lassen, aber eines Tages ereilt sie jeden Sünder.« Sie stöhnte auf, Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Trotzdem zwang sie sich zu sprechen. »Du willst es hören? Also gut: Lily ist Leahs Tochter.«
    »Aber wie ist das möglich?« Johanna beschwor die Erinnerung an jene schreckliche Nacht herauf. »Die indische Amah, die kurz darauf fortgelaufen ist … Hat sie den Säugling weggebracht?«
    »Ja, Barsha. Ich habe ihr Schweigegeld gegeben.« Hilflos musste Johanna mit ansehen, wie ihre Mutter stöhnte und sich vor Schmerzen wand. Es dauerte lange, bis sie wieder sprechen konnte. »Es ist bald so weit«, flüsterte sie. »Bitte hole Reverend Keasberry. Ich möchte meinen Frieden mit Gott machen.«
    Johanna nickte unter Tränen. Als sie sich erhob, strauchelte sie und konnte sich nur mit Mühe vor einem Sturz bewahren.
    »Ich bereue so vieles«, sagte Alwine Uhldorff leise. »Ich wollte euch eine gute Mutter sein, doch jedes Mal, wenn ich mich in euer Leben eingemischt habe, gingen nur Kummer und Leid daraus hervor. Trotzdem musst du mir glauben, dass ich euch liebe, alle beide.«
    »Ich glaube dir, Mama.« Tränen strömten Johannas Wangen hinunter. Sie ahnte, dass dies die letzten Worte waren, die sie mit ihrer Mutter wechselte.
    * * *
    Während im fernen Singapur die Nachmittagssonne alle Schatten fortbrannte und Johanna hilflos neben dem Bett der mit dem Tode ringenden Mutter ausharrte, kündigte sich im Westen der Britischen Insel der Anbruch des Tages erst zaghaft an. Nur eine einzelne Amsel erspähte die zarte Aufhellung des dunkelgrauen Nachthimmels fern im Osten und mahnte die Sonne mit virtuosem Gesang zur Eile.
    Leah lauschte dem Morgenboten mit Erleichterung. Sie fühlte sich zerschlagen nach einer Nacht voller Alpträume, in der die Prozession ihrer Toten sie wieder und wieder heimgesucht hatte. Lange Monate war sie von den Geistern der Vergangenheit verschont geblieben, doch heute war der Traum bedrohlicher gewesen denn je. Am Ende des Zuges, noch hinter dem Vater, der ihr Mädchen fest an der Hand hielt, zeigte sich ein neuer Schatten. Angestrengt hatte Leah versucht, die Züge der Gestalt zu erkennen, doch jedes Mal, wenn sie sich ihr nähern wollte, zerfloss sie. Voller böser Vorahnungen war Leah mehrfach in der Nacht aufgesprungen und ins Zimmer ihres dreijährigen Sohnes Thomas geeilt, der, Gott sei es gedankt, friedlich schlief, ebenso wie Bertrand neben ihr im Ehebett.
    Leah schlug die schwere Daunendecke beiseite und ging zum Fenster. Der Boden war trotz einer dicken Lage kostbarer persischer Teppiche eiskalt, und sie dachte wehmütig an das Gefühl warmer, weichpolierter Holzplanken unter den bloßen Füßen, an die laue Luft und die mannigfaltigen Geräusche eines Tropenmorgens. Ein Morgen, der vor Leben nur so strotzte, während die Sonne in England kaum die Kraft besaß, die ewigen Wolken zu durchdringen, und alle Farben der Natur seltsam grau wirkten.
    Leah überlegte, ob sie versuchen sollte, noch ein wenig Schlaf zu finden, entschied sich jedoch aus Angst, erneut den Toten ausgeliefert zu sein, dagegen. Eine Gänsehaut überlief ihren Körper. Wer mochte diese neue Gestalt gewesen sein? Onkel Koh? Die

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