Die Insel der Orchideen
Gegenteil, doch sie drang in der Annahme, er wolle sie vor der Wahrheit verschonen, nicht weiter in ihn.
Sie machten sich gerade zu Fuß auf den Weg, als die Kutsche der Farnells auf den nördlichen Abschnitt des Boat Quays bog. Entrüstete Rufe begleiteten den Weg des tamilischen Kutschers, doch er trieb sein Pferd weiter an.
»Ja, ist der denn von Sinnen? Vaamalan!«, donnerte Henry.
Der Kutscher zog die Zügel scharf an, das Gefährt kam zum Halt. Die eigentlich schwarze Haut des Tamilen war grau, und er rang nach Luft, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Es bedurfte keiner Worte, zu erkennen, dass etwas Schreckliches geschehen war. Henry sprang zu ihm, packte ihn bei den Schultern. »Sprich, Vaamalan. Was ist los?«
»Wilson«, keuchte er. »Ein Unfall!«
Ohne einen Moment zu zögern, kletterte Johanna gemeinsam mit Henry in die Kutsche. Sie saßen noch nicht, als Vaamalan bereits die Peitsche schwang. In halsbrecherischem Tempo rasten sie durch die Stadt, schneller, immer schneller, bis die Pferde in vollem Galopp die Orchard Road hinaufjagten, hinein in die Scotts Road und die Auffahrt zu Henrys Anwesen hinauf. Dr. Fergusons Kutsche stand bereits vor dem Portiko. Henry sprang aus dem Wagen und raste ins Haus. Johanna folgte ihm langsamer. War sie bisher von dem Gedanken beherrscht, irgendwie helfen zu können, beschlichen sie nun Zweifel, ob ihre Hilfe überhaupt erwünscht sein würde. Zögernd trat sie in die Halle, bereit, wieder umzukehren, sollte Amelia auch nur eine Augenbraue heben. Kaum war sie jedoch im Haus, wusste sie, dass sie gebraucht wurde. Die zahlreiche Dienerschaft, Männer wie Frauen, rangen die Hände und heulten; einen klaren Kopf hatte niemand mehr.
Johanna nahm eine etwas gefasster wirkende Chinesin beiseite und instruierte sie, für Ruhe zu sorgen, dann ging sie eilig die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Sie war nur einmal, zur Einweihungsfeier, in der Villa gewesen, doch ihre Erinnerung an das weitläufige Anwesen war präsent genug, um Wilsons Schlafzimmer auf Anhieb zu finden. Unbemerkt trat sie ein und lehnte sich gegen die Wand neben der Tür. Henry stand leichenblass neben dem Bett und verfolgte die Arbeit des schweigsamen Arztes und seines Assistenten. Sie konnte sehen, wie seine Hände zitterten. Es kostete sie alle Kraft, nicht zu ihm zu gehen. Minuten verrannen. Sie hatte noch keinen Blick auf das Kind auf dem Bett werfen können, doch die blutigen Binden, die Wattebäusche und chirurgischen Werkzeuge ließen auf das Schlimmste schließen. Der Geruch von Äther hing in der Luft. Offensichtlich hatte der Arzt keine andere Wahl gehabt, als den Jungen zu betäuben.
Die Tür ging auf. Amelia stürmte zum Bett, ohne Johanna zu bemerken. Johanna war erfüllt von Mitleid für sie. Auch Henry trat auf sie zu, wollte seine Arme um sie legen, doch sie wich ihm aus. Johanna überlegte noch, ob sie den Raum besser verlassen sollte, als Amelia sie entdeckte.
»Was wollen Sie hier?«, schrie sie und trat einen Schritt auf Johanna zu. Angesichts des ihr entgegenschlagenden Hasses presste sich Johanna gegen die Wand. »Ich möchte meine Hilfe anbieten«, stammelte sie. »Wenn Sie wollen, kümmere ich mich um Oscar.«
»Niemals lasse ich Sie in die Nähe meiner Kinder. Gehen Sie. Sofort!«
»Mäßige dich!« Obwohl Henrys Befehl an Amelia gerichtet war, zuckte Johanna zusammen. Noch nie hatte sie Henry derart zornig und bestimmend erlebt. »Johanna bleibt. Im Gegensatz zu dir versteht sie einiges von Krankenpflege.«
»Ich will sie aber nicht hierhaben«, beharrte Amelia, wenn auch schon weitaus kleinlauter.
»Sind Sie denn alle wahnsinnig?«, bellte Dr. Ferguson. »Seien Sie still oder verlassen Sie den Raum. Ohne Ausnahme!«
»Niemals!« Amelia wollte sich an ihm vorbei zum Bett drängen, doch er verstellte ihr den Weg. Plötzlich krümmte sie sich zusammen. Ein hohles Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Für einen Moment herrschte Stille, dann begriff Johanna.
»Großer Gott! Das Kind kommt!«
Mit Henrys Hilfe brachte sie Amelia in ihr Schlafzimmer. Eine Dienerin rannte nach kochendem Wasser und beauftragte den Kutscher, die Hebamme zu holen. Sobald Amelia, von ihrem Kleid befreit, auf dem Bett lag, eilte Henry zurück in Wilsons Zimmer. Amelia bekam die nächste Wehe. Wimmernd krallte sie ihre Finger ins Laken. Als der Schmerz verebbte, war sie schweißgebadet. Johanna wollte ihr die feuchten Haare aus der Stirn streichen, doch Amelia stieß ihre Hand beiseite und
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