Die Insel der Orchideen
machte Anstalten, sich zu erheben.
»Bleiben Sie besser liegen.«
»Ich will zu meinem Sohn.« Amelia schluchzte auf. »Ich muss doch wissen, ob es ihm gutgeht.«
»Ihr Mann ist bei ihm. Sie müssen jetzt an das Baby denken.« Sanft drückte Johanna sie zurück in die Kissen. Der Hass war aus Amelias Augen gewichen und hatte einer so tiefen Verzweiflung Platz gemacht, dass sich Johanna schämte, jemals schlecht über diese Frau gedacht zu haben. Ein Schrei zerschnitt die Luft, als eine neue Wehe Amelias Körper schüttelte. Die dritte Wehe hatte viel zu schnell eingesetzt. Wenn es so weiterging, würde das Kind bald auf der Welt sein. In einem Stoßgebet bat Johanna um eine leichte Geburt.
Wenn doch die Hebamme schon da wäre! Die Wehen kamen in regelmäßigen, nur wenige Minuten dauernden Abständen. Amelia machte keine Anstalten mehr, nach Wilson zu sehen. Die Geburtsschmerzen verdrängten alle anderen Gedanken, und auch Johanna hatte kaum noch Zeit, sich Sorgen um den Jungen zu machen.
Endlich öffnete sich die Tür. Eine dunkelhäutige Inderin von etwa fünfzig Jahren, die grauen Haare zu einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengefasst und angetan mit dem weißen Sari der Witwen, trat in den Raum und füllte ihn mit ihrer Autorität bis in den letzten Winkel. Die Diener schleppten ausgekochte Tücher heran, die Fenster wurden aufgerissen, um frische, belebende Luft hereinzulassen. Amelia kreischte und stöhnte, und schließlich, nach einer Stunde, es mochten auch zwei sein, hievten die Frauen sie aus dem Bett und stützten sie, so dass sie breitbeinig vor dem Bett stand und ihr Kind im Stehen gebar. Die Hebamme fing es auf. Einige endlose Herzschläge lang hielt die Welt den Atem an, dann brüllte das Baby, umarmte das Leben, gesund und heil.
Johanna kauerte auf der obersten Treppenstufe, das Gesicht in den Händen vergraben, als Henry sich neben sie setzte. Sie blickte auf. Tränen rannen ihm über die Wangen, Krämpfe schüttelten seinen Körper, ohne dass er einen Laut von sich gab. Johanna verstand. Wilson hatte es nicht geschafft.
»Geh«, sagte sie heiser. »Geh und begrüße deine Tochter.«
Wankend verließ sie das Haus, taub an Körper und Geist.
19
Dezember 1867 , vier Monate später
H enry verzog angewidert das Gesicht, als er das Bugis-Schiff betrat. Der Kapitän an seiner Seite lächelte nachsichtig. Er selbst roch es nicht mehr, ahnte aber, dass der Gestank selbst gestandenen Ostasienhändlern wie Henry Farnell zusetzte. Die Laderäume waren bis unter den Rand mit den Erzeugnissen der Region beladen: Schwalbennester aus Siam, Nelken von den Molukken, die er in einer waghalsigen Operation an den Holländern vorbeigeschmuggelt hatte, Schildkrötenpanzer von der Insel Bali, Vogelfedern und Muskat. Getrocknete Haifischflossen machten einen großen Teil der Ladung aus und leisteten einen nicht unerheblichen Beitrag zu der stechenden Geruchsmelange, die das Schiff umwaberte. Zwei weitere Handelsagenten erkletterten die Jakobsleiter und sprangen auf Deck. Unwillkürlich hielten sie sich die Hände vor die Nase, dann sahen sie Henry und nickten ihm ernst zu.
Die Inspektion der Waren zog sich hin. Seit Monaten kämpfte Henry mit Verunsicherung. Wilsons grausamer Tod hatte ihn tief erschüttert; noch heute, vier Monate später, musste er sich jeden Schritt zurück in die vertrauten Bahnen seines Lebens mühsam erarbeiten. Anfangs hatte er es geschätzt, dass ihm und seiner Familie mit Rücksicht und Geduld begegnet wurde. Doch noch immer verstummten Gespräche und Lachen, wenn er einen Raum betrat, senkten Freunde und Geschäftspartner, ja selbst die einfachen Kulis die Stimmen, wenn er zugegen war. Manchmal hätte er schreien mögen. Er sehnte sich nach Normalität außerhalb seines Hauses, denn hinter den Mauern der schönen Villa in der Scotts Road, hinter den Vorhängen und Fensterläden, die nie mehr geöffnet wurden, fühlte er sich oft dem Wahnsinn nahe.
Damals in England hatte er es kaum fassen können, dass sich ein liebreizendes Geschöpf wie Amelia für ihn erwärmte. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte die junge Frau ihn fasziniert. Sie sprühte vor Lebenslust, ihre Schlagfertigkeit gepaart mit einem, wie er glaubte, ungeheuchelten Interesse an seinem Beruf und der exotischen Welt des Fernen Ostens blendete ihn ebenso wie ihre Schönheit. Bald war er davon überzeugt, mit Amelia an seiner Seite seine unglückliche Liebe zu Johanna überwinden zu können, und am Tag der
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