Die Insel der Orchideen
es zum Streit gekommen, doch diesmal hatten sowohl Bertrand als auch der Earl ihre Schwiegermutter in die Schranken gewiesen. Hoch an Deck der
Ajax
spürte Leah ein wenig Wehmut, als sie an ihren Schwiegervater dachte. Er war nicht begeistert gewesen von der Aussicht, seinen Sohn, seinen Enkel und auch sie ein ganzes Jahr lang nicht zu sehen, allerdings wurde Leah den Verdacht nicht los, dass er, anstatt sie in England festzuhalten, liebend gern mit ihnen auf Reisen gegangen wäre.
Am 7 . Juni 1869 , genau acht Wochen und einen Tag nach ihrer Abreise aus Liverpool, umschiffte die
Ajax
die Ostspitze von Singapur und suchte sich ihren Kurs durch die Untiefen. Endlich kam Pulau Blakang Mati in Sicht, jene kleine Insel, die bis zum Schluss die Sicht auf die Stadt an der Mündung des Singapur-Flusses verstellte. Leah umklammerte angespannt die Reling. Vor dreizehn Jahren hatte sie neben Henry Farnell auf dem Deck der
Ganges
gestanden und ihrem neuen Leben entgegengefiebert, vier Jahre später hatte sie der Stadt den Rücken gekehrt, mit dem festen Vorsatz, nie wieder einen Fuß auf die Insel zu setzen. Allein ihrem geliebten Mann verdankte sie heute die Kraft, ihren Schwur zu brechen.
Pulau Blakang Mati rückte näher und näher. Irritiert registrierte Leah, dass der Kapitän einen nordöstlichen Kurs hielt, anstatt das Inselchen südlich zu umrunden. Mit stiller Verwunderung ging sie im Neuen Hafen von Bord. Während der unbequemen Fahrt über den durch den Sumpf führenden Damm, der den Neuen Hafen mit Raffles Place am Fluss verband, bereitete sie sich auf neue Überraschungen vor, und sie kamen: Vom Telok-Ayer-Markt bis zum Johnston Pier war der Strand einer befestigten Straße gewichen, dem Collyer Quay, wie der Kutscher stolz verlauten ließ. Prächtige Kontore, die nichts mehr mit den schmucklosen Godowns am Fluss gemein hatten, an die sich Leah erinnerte, säumten die neue Straße; jedes der Häuser verfügte im ersten Stock über eine tiefe, mit Fähnchen und roten Laternen geschmückte Veranda. Assistenten mit langen Teleskopen standen dort aufgereiht und vermeldeten die Ankunft der Schiffe. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Eine neue Eisenbrücke verband das Süd- und das Nordufer des Flusses, ein imposantes Konzert- und Theaterhaus und ein nicht minder beeindruckendes Rathaus waren auf der Landspitze am Nordufer entstanden. Die blendend weiße St.-Andrew’s-Kathedrale reckte ihren Turm in den Himmel, und unter der noch immer lustig flatternden Fahne auf Government Hill dräute ein Fort anstelle der alten Bruchbude, die so vielen Gouverneuren der Stadt als Residenz hatte genügen müssen. Leah schwirrte der Kopf von all den neuen Eindrücken. Sie war erleichtert, als die Kutsche vor dem
Hotel d’Europe
an der Esplanade hielt.
Wenig später, ihr Gepäck war bereits im Zimmer verstaut, saß sie mit Bertrand und Thomas auf der dem Meer zugewandten Terrasse des Hotels und aß Mangosteen und Papaya. Nur langsam legte sich der Tumult in ihrem Kopf.
Bertrand strich über ihren Handrücken. »Wie fühlst du dich?«
»Verwirrt. Neun Jahre sind eine lange Zeit. Die Stadt ist kaum wiederzuerkennen.«
»Sie ist schön.«
Leah nickte. Thomas, der bisher friedlich seinen Mangosaft getrunken hatte, sprang plötzlich auf und tauchte kopfüber in einen rotblühenden Hibiskusstrauch. Leah und Bertrand wollten ihm nach, hielten aber mitten in der Bewegung inne und lachten.
»So war ich auch«, sagte Bertrand grinsend.
»Ich auch. Meine Mutter hat wegen der schmutzigen Kleidchen immer mit mir geschimpft.«
»Lebt sie in Singapur?«
Leahs Lachen erstarb. »Du hast mir versprochen, nie zu fragen.«
»Du hast es selbst gesagt: Neun Jahre sind eine lange Zeit. Jetzt hast du die Gelegenheit, den Felsen, der deine Seele beschwert, endlich abzutragen.«
»Ich weiß nicht einmal, ob sie noch hier wohnen«, murmelte Leah mehr zu sich als zu ihm. »Ob sie überhaupt noch leben.«
»Dann finde es heraus. Es wird dir bessergehen, wenn du dich aussprichst.«
»Du hörst dich an wie Reverend Honeycomb.«
»Tue ich das? Nun, ich mag unseren Pastor in Keswick. Er hat vielleicht nicht die Weisheit gepachtet, aber er ist ein aufrechter Mensch. Die Entscheidung kann ich dir sowieso nicht abnehmen, aber zu sagen, was ich denke, musst du mir zugestehen.«
»Ich weiß, dass du es gut meinst. Es ist nur …« Leah brach ab. Mit jedem Augenblick wurde es aussichtsloser, den Ansturm der Bilder zurückzudrängen. Sie sah
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