Die Insel der Orchideen
seit jenem Sommer, in dem Leah verschwand.
»Haben Sie etwas von ihr gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht wegen Leah hier. Ich brauche Ihre Hilfe. Kennen Sie den
Garten der Frühlingsblumen
?«
Er riss verblüfft die Augen auf. »Was wollen Sie dort?«
»Sie kennen das Haus also. Führen Sie mich bitte hin.« Johanna kramte eine Münze hervor und wollte sie ihm geben. Er wehrte ab.
»Sie wissen, um was für ein Etablissement es sich handelt?«
»Allerdings.«
Er schwieg für eine Weile, rang mit sich. Schließlich holte er tief Luft. »Es steht mir nicht zu, aber ich muss Sie fragen: Suchen Sie Ihren Mann?«
Johanna schwieg. Was wusste er?
»Er ist hin und wieder dort gesehen worden«, beantwortete Koh Kok ihre unausgesprochene Frage. Es war ihm sichtlich unangenehm. »Ein reicher Europäer fällt in dieser Gegend auf. Aber seien Sie versichert, dieses Geheimnis wird die Grenzen des chinesischen Viertels nie überschreiten«, fügte er hastig hinzu.
»Dafür ist es längst zu spät«, murmelte Johanna. »Bitte, bringen Sie mich hin.«
Johanna war entsetzt. Nur ein einziges Mal, auf der Suche nach Leah, hatte sie sich in die verborgenen Winkel der Stadt verirrt und war kopflos wieder geflüchtet. Jetzt kamen die Eindrücke von damals mit Macht zurück. Stocksteif folgte sie dem Geschichtenerzähler durch Gassen und Wege, gegen die sich seine Wohngegend beinahe luxuriös ausnahm. In allen Hauseingängen standen und lagerten in großen Trauben Menschen, hauptsächlich junge Chinesen. Manche starrten mit glasigen Opiumaugen durch sie hindurch, andere musterten sie mit unverhohlener, beinahe kindlicher Neugierde.
»Sinkehs«, sagte Koh Kok. »Neuankömmlinge. Sie haben noch nie eine weiße Mem gesehen, jedenfalls nicht aus dieser Nähe.«
Dichter wurde das Gewühl, zerrissene Papierlaternen schmückten jeden Eingang. Eine Tür ging auf, heraus kam ein torkelnder Mann, je einen Arm um die Schultern blutjunger Chinesenmädchen gelegt, deren Augen dieselbe Leere aufwiesen wie die der Opiumtrinker. Zwei Türen weiter wurde Johanna Zeugin, wie ein Mann eine Dirne so heftig ohrfeigte, dass ihr das Blut aus der Nase lief. Sie hielt an. Koh Kok zupfte sie am Ärmel.
»Sehen Sie die Leute besser nicht direkt an«, sagte er. »Wollen Sie wirklich noch weiter?«
Die grässlichen Bilder erzwangen sich brutal Eingang in Johannas Kopf und verdrängten ihren Abschiedsschmerz. Hier hatte sich Friedrich herumgetrieben? Sich im Schmutz gewälzt? Ekel erfasste sie, doch nicht vor den Mädchen und Frauen, sondern vor den Männern, vor ihrem Mann. Sie riss sich aus ihren Gedanken und wandte sich an Koh Kok.
»Weiter!«, forderte sie.
»Sie sind mutig. Mutiger als Leah.«
Johanna lachte bitter auf. »Wohl kaum. Ich wäre niemals allein fortgegangen.«
»Manchmal erfordert es mehr Mut, zu bleiben, als zu gehen. Mutig ist nur der, der seine Angst überwindet. Leah kannte keine Angst. Sie schon.«
Mutig? Johanna runzelte die Stirn. Sie hielt sich für feige, weil sie nicht um Henry kämpfte und stattdessen bei Friedrich blieb. War es in Wirklichkeit Mut, der sie antrieb, der sie ihr eigenes Glück hintanstellen ließ?
Das Elend der Straße setzte sich im
Garten der Frühlingsblumen
fort. Schon beim Eintreten musste sich Johanna zwingen, die Contenance zu wahren, so schwer standen die menschlichen Ausdünstungen, kaum überdeckt vom Qualm unzähliger Räucherstäbchen, in dem kleinen Empfangsraum. Eine stämmige Chinesin mit hellgeschminktem Gesicht trat ihr entgegen. Die Frau mochte etwa vierzig Jahre alt sein und strahlte aggressive Autorität aus. Sie streifte Johanna mit einem abschätzenden Seitenblick und wandte sich sogleich an Koh Kok.
»Er hat mich nur hergeführt«, sagte Johanna rasch auf Malaiisch. Es drängte sie, das elende Haus umgehend zu verlassen, doch ihr Stolz erlaubte es nicht. Der Geschichtenerzähler bescheinigte ihr Mut, nun wollte sie es auch zu Ende bringen. »Ich bin hier, um mich nach dem Befinden eines Ihrer Mädchen zu erkundigen. Ich will sie sehen.«
Die Mamasan benötigte keine weiteren Erklärungen. Es ginge dem Mädchen gut, wiegelte sie ab, aber Johanna beharrte auf ihrer Forderung. Unter den Augen der erstaunten Huren, von denen manche das fünfzehnte Lebensjahr kaum erreicht haben durften, andere wiederum ihr wahres Alter ungeachtet ihrer faulenden Zähne unter dicken Puderschichten zu verbergen suchten, führte die Mamasan Johanna und Koh Kok tief in den Bauch des
Weitere Kostenlose Bücher