Die Insel der Orchideen
sich und Johanna barfuß im Regen tanzen, damals nach ihrem ersten Silvesterball. Sie sah die Mutter, den Vater, Onkel Koh. Und dann traten sie alle aus dem Schatten, in den Leah sie vor Jahren verbannt hatte, Boon Lee, ihr wunderschöner Geliebter, Bowie, Friedrich, Mercy und ihre Zwillinge, Ping und Lim, der kleine Hermann. O Gott, Hermann, er musste schon ein großer Junge sein! Und schließlich wagte sich ein etwa neunjähriges, schwarzhaariges Mädchen für die Spanne eines Wimpernschlags ins helle Licht. Ihr Mädchen, das niemals gelebt hatte.
»Mami, warum weinst du?«
»Es ist nichts, mein Schatz. Mir ist etwas ins Auge geflogen.«
»Ach so. Dann sieh mal, was ich gefunden habe.« Voller Stolz öffnete Thomas seine zu einer hohlen Kugel geformten Hände. Eine grasgrüne, ziemlich benommene Gottesanbeterin stakste von seiner Handfläche auf den Tisch.
* * *
Der Geschichtenerzähler beendete seine Vorstellung mit einer leichten Verbeugung und sprang von seinem Podest in der Nähe der eisernen Elgin Bridge, die seit einigen Jahren die hölzerne Thomson’s Bridge ersetzte. Er drückte einem der Zuhörer seine Blechkiste in die Hand und bat ihn, Geld einzusammeln und später vorbeizubringen. Das Äffchen war vor einem Jahr in einem gesegneten Alter gestorben. Ohne weitere Erklärung ließ er den verdatterten Mann stehen und hastete durch den Kreis der Zuhörer, die wie immer noch ein wenig verweilten und schwatzten – bis auf einen, der sich sofort nach dem letzten Satz davonmachte. Der Kuli war erst zum Publikum gestoßen, als Koh Kok die heutige Geschichte schon halb erzählt hatte, suchte sich einen Platz etwas abseits und lauschte regungslos. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen, so dass Koh Kok ihn nicht erkennen konnte, aber etwas an der Gestalt fesselte seine Aufmerksamkeit und brachte ihn mehrfach aus dem Erzählfluss. Nun drängelte er sich rücksichtslos durch die Träger und Schreiber und Händler am Flussufer und schloss zu dem Kuli auf, die Augen fest auf den braunen Zopf geheftet. Seine Zweifel schwanden mit jedem Schritt, den er sich näherte.
»Xue Yan?«, rief er. »Kleiner Sperling?«
Sie blieb stehen. Langsam drehte sie sich um und schob den Hut in den Nacken. Sie sagte kein Wort, doch ihr Blick war beredt genug. Unsicherheit stand darin, die Bitte um Entschuldigung, dass sie niemals wieder geschrieben, ihn im Unklaren gelassen hatte, ob sie noch lebte. Die Frage, ob sie ihm willkommen war.
Ein Kribbeln überlief Koh Koks Körper. Sie war es, seine kleine Leah. Das Leben hatte Zeichen in ihrem Gesicht hinterlassen, feine Fältchen, Kanten, wo vorher alles rund und kindlich gewesen war. Was mochte sie erlebt haben? Er breitete die Arme aus, machte einen kleinen Schritt in ihre Richtung und endlich flog sie auf ihn zu, schmiegte sich an ihn wie damals.
Nach langer Zeit nahm er sie bei der Hand und zog sie hinein in die Gassen, immer tiefer, bis er ein kleines Restaurant fand, das jenem ähnelte, in dem sie ihren letzten gemeinsamen Abend verbracht hatten. Er drückte sie auf einen Hocker und bestellte Tee und Schnaps. Wortlos betrachteten sie sich.
Koh Kok brach das Schweigen als Erster. »Hättest du dich mir irgendwann zu erkennen gegeben?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe dich furchtbar enttäuscht.«
Ihre Stimme. Ihr flüssiges Hokkien mit dem drolligen Akzent, den sie nie ablegen würde. Er hätte singen können vor Glück und Dankbarkeit, sie wohlauf vor sich zu sehen.
Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. »Das hast du nicht, Leah. Als du an Bord der Dschunke gegangen bist, musstest du alle Fäden zerschneiden, die dich mit deinem alten Leben verbanden. Andernfalls hätte die Sehnsucht dich zerstört. Ich weiß, wovon ich spreche.«
»Danke«, sagte sie.
»Seit wann bist du zurück?«
»Wir sind vorgestern angekommen.«
»Wir?«
Sie nahm den Hut ab und lehnte ihn gegen die Wand. Mit einer müden Geste wischte sie eine Haarsträhne aus der schweißnassen Stirn. »Ich hatte vergessen, wie heiß es in Singapur ist.« Sie fuhr mit den Fingern durch eine Teepfütze. »Ja, wir«, sagte sie. »Mein Mann, mein Sohn und ich.«
Freude durchzuckte ihn. Sie war verheiratet. »Liebst du ihn?«
Sie runzelte die Stirn. »Ja, ich liebe ihn sehr. Bist du zufrieden?«
»Mehr als das.«
Endlich lächelte sie. Mit klopfendem Herzen verfolgte Koh Kok die Veränderung in Leahs Zügen, wie sie weicher wurden, offener und voller Vertrauen. Er konnte kaum fassen, dass sie
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