Die Insel der Orchideen
und Alwines Strenge. Hatten die beiden am Ende doch alles richtig gemacht, waren sie hellsichtiger als sie selbst gewesen? Wäre sie denn mit Boon Lee glücklich geworden? Leah ahnte, dass dies nicht unbedingt der Fall gewesen wäre, stattdessen hätte sie sich den strengen Konventionen der Baba-Gesellschaft beugen müssen – und wäre über kurz oder lang daran zerbrochen. Wieder spürte sie den Geist ihres totgeborenen Mädchens friedlich neben sich sitzen. Es war an der Zeit, reinen Tisch zu machen. Das Leben schritt voran, sie konnte nicht ewig hadern. Sie befahl dem indischen Kutscher, den Weg fortzusetzen.
Eine Chinesin winkte der Kutsche, in der Hoffnung, sie sei frei, drehte sich aber sofort wieder um. Leah vermeinte, Ping erkannt zu haben, doch sie konnte sich nicht mehr versichern, denn der Palanquin bog in die Waterloo Street. Leah bat den Kutscher, erst anzuhalten, wenn sie ihm ein Zeichen gab. Langsam rollten sie an bekannten und neuen Häusern und Villen vorbei. Leah wollte den Kopf aus dem Fenster strecken, als sie zurückprallte: Gerade in diesem Moment trat Johanna aus der Gartenpforte, bepackt wie ein Lastenesel. Hinter ihr ging ein chinesisches Kind in traditioneller Jacke und Hose aus einfacher Baumwolle, das nicht minder unter seiner Last schwitzte. Leah presste sich in den Sitz, überwältigt von Johannas plötzlichem Erscheinen. Ihr Herz pochte bis zum Hals, Panik bemächtigte sich ihrer. Und jetzt? Sie konnte doch nicht einfach aussteigen! Was sollte sie bloß tun? Anhalten, erst einmal anhalten. Sie klopfte gegen die Wand. Der Kutscher zügelte sein Pferd, kaum vierzig Schritte von Johanna und dem Kind entfernt. Die beiden wandten Leah den Rücken zu und blickten die Straße hinunter. Leah wagte es, den Kopf ein wenig vorzuschieben und die beiden zu beobachten. Sie wirkten sehr vertraut. Das Kind, ein Mädchen, hatte seine Taschen abgesetzt und erzählte der Schwester gestenreich etwas, was sehr lustig sein musste, denn Johanna wollte sich vor Lachen schier ausschütten.
Leah erstarrte. Da war etwas an den unbändigen Gesten und dem ungeduldigen Trippeln des Mädchens, das ihr sehr vertraut vorkam. Die Brust wurde ihr eng, ihr schwindelte. Unmöglich, es war unmöglich! Sie sah sich selbst in der Kleinen! Das Mädchen drehte sich zu Johanna, so dass Leah sein Profil betrachten konnte. Es war etwa zehn Jahre alt, vielleicht ein wenig jünger. Und mochte die Welt auch getäuscht werden, Leah erkannte ihre Tochter. Das Mädchen hatte kaum etwas von ihr, doch Boon Lees Erbe war unleugbar. Leah keuchte. Ihr Kind lebte! Dort drüben strich Johanna ihrer Tochter mit mütterlicher Fürsorge übers Haar. Ohne über die Folgen nachzudenken, sprang sie aus der Kutsche.
»Johanna!«
Die Schwester drehte sich um, erbleichte. In diesem Moment fuhr eine weitere Kutsche vor und nahm Leah die Sicht, gleichzeitig hemmte eine Gruppe schwatzender und rangelnder dunkelhäutiger Jungen aus der nahegelegenen tamilischen Schule ihren Lauf. Bevor sie verstand, was vor sich ging, setzte sich das Pferd schon wieder in Bewegung. Ein verwirrtes Kindergesicht erschien im Fenster, dunkelbraune Augen ruhten neugierig auf Leah, dann war die Kutsche außer Reichweite.
Johanna hatte die Stimme ihrer Schwester sofort erkannt. Es fühlte sich an, als schieße ein Blitz durch ihren Körper. Sie wirbelte herum. Leah! Sie war zurück, nach so vielen Jahren des bangen Wartens! Schon wollte sie über die Straße stürzen, die Schwester in die Arme schließen, als die Mietkutsche vorfuhr. Johanna handelte, ohne groß nachzudenken. Sie schob die verdutzte Lily in den Palanquin und hieß Ping, einen großen Bogen zu fahren, bevor sie in die Waterloo Street zurückkehrten. Dann eilte sie zu ihrer Schwester, die wie vom Donner gerührt der sich entfernenden Kutsche nachsah.
Johanna durchlief es siedend heiß. Leah hatte die Situation richtig eingeschätzt. Sie hatte in Lily ihre Tochter erkannt. Zitternd trat sie neben die Schwester.
»Leah. Ich bin so froh.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Du lebst«, flüsterte sie. »Ich habe jeden Abend für dich gebetet.«
Leah erwachte aus ihrer Starre. Ihr Gesicht verriet den Aufruhr in ihrem Inneren.
»Verräterin«, zischte sie. »Du bist noch schlimmer, als ich dachte.«
Johannas Magen ballte sich zusammen. Mit aller Macht brachen die Schuldgefühle, die sie ohnehin nur mühsam in Schach gehalten hatte, wieder durch. Verzweifelt suchte sie nach Worten. Warum nur hatte das
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