Die Insel der Orchideen
feine Viertel gewagt. Wir waren dort nicht willkommen.«
Henry brummte etwas Unverständliches, dann hob er den Kopf. »Auf Londoner Bällen und Empfängen habe ich oft Frauen getroffen, die mit ihren Männern einige Jahre in den Kolonien gelebt haben. Alle, ohne Ausnahme, waren froh, der Langeweile, der Hitze, dem Schmutz und was weiß ich noch entkommen zu sein. Du beklagst dich nie.«
»Natürlich nicht.« Johanna war ehrlich verwundert. »Ich gehöre hierher.«
»Ich habe mich oft gefragt, warum dir gelungen ist, was den anderen Damen verwehrt blieb: heimisch zu werden.«
»Weißt du es wirklich nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Weil ich es wollte, Henry, einzig deshalb. Es ist eine Geisteshaltung, die Leah und ich von unserem Vater übernommen haben. Wir haben uns nicht für etwas Besseres gehalten als die Asiaten, haben ihre Kulturen als ebenbürtig angesehen und Freunde gewonnen. Wer das nicht tut, wird immer fremd bleiben.« Johanna zögerte. »Du hast das Thema nicht grundlos angeschnitten«, stellte sie fest.
Er schüttelte den Kopf. Seine Züge veränderten sich; die Falten wurden wieder tiefer, und der Glanz seiner Augen erlosch. Johannas Hände zitterten.
»Amelia und Oscar sind mit dir gekommen?« Sie hörte sich selbst kaum, so klein war ihre Stimme. Gleichzeitig schalt sie sich, etwas anderes gehofft zu haben.
»Sie sind im Hotel. Eigentlich wollte ich nur mit Oscar reisen. Der Junge soll das Ostasiengeschäft vor Ort kennenlernen. Amelia hat sich jedoch auf keine Diskussion eingelassen. Seit auch Milicent gestorben ist, weicht sie ihm kaum von der Seite.« Er lachte bitter. »Amelia würde schäumen, wenn sie uns hier sehen könnte. Sie ist noch immer eifersüchtig auf dich.« Er beugte sich vor und nahm ihre zitternden Hände. »Sie hat einen guten Instinkt. Seit einer Stunde weiß ich wieder, dass sie Grund dazu hat.«
So nahe war er. Und gleichzeitig so unerreichbar. Johanna zog die Hände fort.
»Sei still. Ich möchte nichts davon hören.«
»Aber …«
»Es hat sich nichts geändert: Du bist an deine Familie gebunden.«
»So viele Jahre habe ich deine Briefe nach einem persönlichen Wort, nach einer versteckten Botschaft durchforstet. Immer vergebens. Trotzdem will ich nicht glauben, dass du nichts für mich empfindest. Deine Augen verraten dich.«
»Ebenso wenig, wie ich dir fünfzehn Jahre nachgetrauert habe, hast du dich in all der Zeit nach mir verzehrt. So ist die Liebe nicht. Sie kommt, sie geht, sie nutzt sich ab. Sie ist keine Schicksalsmacht, das glauben nur die Jungen. Wir Alten sollten es besser wissen. Du stehst meinem Herzen nahe, aber als Freund. Mehr darf nicht sein.«
»Wir werden uns allein schon wegen der Firma nicht aus dem Weg gehen können.«
»Ich vertraue darauf, dass wir zivilisiert miteinander umgehen.« Sie drückte dem Teeausschenker eine Münze in die Hand und erhob sich. »Ich fahre nach Hause. In den nächsten Tagen werdet ihr eine Einladung zu Dinahs und Roys Hochzeit erhalten.«
»Johanna.«
Sie drehte sich noch einmal um. »Ja?«
»Ich habe alles verdorben. Sogar unser Wiedersehen nach beinahe anderthalb Jahrzehnten.«
»Du hättest mich nicht so überrumpeln dürfen«, sagte sie leise. »Vielleicht hätte ich dann fröhlichere Worte gefunden.«
* * *
Johanna und Mercy winkten noch, als die Kutsche schon außer Sicht war. Schulter an Schulter standen sie in der Mitte der zu dieser vorgerückten Stunde menschenleeren Straße, waren sich Halt und Stütze. Irgendwann nahm Mercy die Hand herunter und schneuzte ausgiebig in das Tuch, das eben noch zum Winken gedient hatte.
»Meine Güte«, sagte sie. »Warum tun wir eigentlich so, als führen die beiden ins Unglück?«
Johanna lachte unter Tränen. »Es ist eben nicht leicht, die Kinder ziehen zu lassen. Und sei es nur in ein anderes Stadtviertel.«
»Da hast du recht.« Ein verschmitztes Grinsen zeigte sich auf Mercys Gesicht. Fröhlich stieß sie Johanna in die Seite. »Ich freue mich schon darauf, meine Enkelkinder zu verwöhnen.«
Lächelnd legte Johanna einen Arm um Mercys weiche Schultern. »Nun sind wir sogar miteinander verwandt. Wer hätte das gedacht.«
»Hier seid ihr.« Carl trat zu ihnen. »Sobald ihr euch gefangen habt, solltet ihr zurück zum Fest kommen. Ich fürchte, Mrs Farnell hat es darauf abgesehen, Lily zu brüskieren. Deine scharfe Zunge ist gefragt, Mama.«
Und fort war er.
»Weiß sie etwas?«, fragte Mercy alarmiert.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.
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