Die Insel der Orchideen
hinunter.
»Ist alles in Ordnung, Mutter?«
Leah legte den Finger an die Lippen. »Leise. Dein Vater schläft noch.« Sie nahm ihn in den Arm. Er überragte sie um Haupteslänge. »Herzlichen Glückwunsch zum neunzehnten Geburtstag. Ich wollte gerade zum Strand. Die Fischer müssten bald heimkehren, und ich möchte bei ihnen etwas für das Festmahl zu deinem Ehrentag erstehen. Willst du mich begleiten?«
»Natürlich.« Selbst im Dunkeln meinte sie, seine Augen vor Abenteuerlust funkeln zu sehen.
»Dann komm.«
Sie gingen langsam; Thomas hatte sich in den drei Tagen, die sie in Anjer weilten, noch nicht an seine neuen Sandalen gewöhnt und stolperte mehrfach auf dem steilen Weg hinab zum Ortskern. Ihr gemietetes Haus stand hoch am Hang des Hügels, der das Städtchen zur Landseite hin abschirmte. Leah war erst enttäuscht gewesen, keinen Bungalow am Meer zu bekommen, doch der Ausblick von der Veranda im ersten Stock über die hübschen, von sattgrünen Mangobäumen beschirmten Holzhäuser der niederländischen Enklave bis hin zur Sundastraße hatte sie schnell versöhnt. Weit war es nicht; gerade eine Viertelstunde Fußmarsch trennte sie von Markt und Küste. Sie erreichten den Strand in dem Moment, als in ihrem Rücken die Sonne aufging. Der sichtbare der drei Vulkane auf der etwa sechzig Kilometer entfernten Insel Krakatau wurde vom Sonnenlicht übergossen. Von allen Seiten strebten Fischerboote auf die javanische Küste zu. Leah und Thomas setzten sich in den Sand und genossen das Schauspiel, bis plötzlich etwas Seltsames geschah.
»Was ist das?« Ein schriller Unterton schlich sich in Thomas’ Stimme.
Leah bemerkte es ebenfalls. Sie legte die Hände flach auf den Sand. Ein letztes Zittern, dann war der Boden wieder ruhig. »Ein leichtes Erdbeben.« Sie wies auf den weit entfernten Vulkan. »So etwas kommt oft vor in Regionen mit vulkanischer Aktivität. Kein Grund zur Beunruhigung.«
Lange vor Thomas’ Geburt hatten Bertrand und sie mehrere Vulkane bestiegen: den heiligen Bromo, den Kelimutu mit seinen drei verschiedenfarbigen Kraterseen und sogar den Ijen an der äußersten Ostspitze Javas, eine Hölle aus Schwefel. Leah war fasziniert gewesen von den Feuerbergen und der Flora und Fauna an ihren fruchtbaren Hängen. Nirgends auf der Welt waren Tod und überbordendes Leben so eng miteinander verknüpft. Und schon in wenigen Wochen würde sie zum Toba-See reisen, dem größten Kratersee der Welt.
»Gefällt es dir hier?« Verstohlen musterte Leah ihren Sohn. Noch haftete ihm das Ungelenke der Jugend an. Ein rötlicher Flaum überzog Wangen und Kinn. Es würde eine Weile dauern, bis daraus ein anständiger Bart wurde.
»Ich muss mich noch an die Hitze und die Luftfeuchtigkeit gewöhnen«, sagte er. »Und die Geräusche. Das Rascheln im Dach und die Schreie der Nachttiere sind unheimlich.«
»Willst du dich denn daran gewöhnen?«, fragte Leah mit einem Anflug von Bangigkeit. Thomas mochte dreimal ihr Sohn sein, wenn ihn die Faszination nicht packte, würde er in der Fremde leiden.
»Du machst Scherze. Es ist fantastisch hier. Ich bin dir und Vater richtig böse, dass ihr mir diese Wunder so lange vorenthalten habt.«
»Du warst doch schon in Ostindien.«
»Da war ich erst fünf. Ich kann mich kaum erinnern.«
»Dafür erinnere ich mich umso besser: Wir waren kaum einen Tag von Bord, als du bereits deine erste Gottesanbeterin gefangen hast. Mit der bloßen Hand.« Bilder von ihrem Singapur-Aufenthalt vor dreizehn Jahren durchzuckten sie. Johanna, Boon Lee. Lily. Ihre Tochter war inzwischen eine erwachsene Frau. Sicher hatte Johanna für einen guten Ehemann gesorgt. Wahrscheinlich war Lily schon Mutter. Leah biss sich auf die Lippen. Das würde bedeuten, dass sie Großmutter war. Ein seltsamer Gedanke.
Singapur. Ob sie es diesmal schaffte, über ihren Schatten zu springen und mit Johanna Frieden zu schließen? Oder hatte sie das schon mit dem Brief getan, den sie der Schwester damals hinterlassen hatte? Leah schloss die Augen. Nein, der Brief reichte nicht aus. Statt mit Johanna zu sprechen, hatte sie feige die Flucht ergriffen. Feigheit, die sie sich als gerechten Stolz schöngeredet hatte, aber dieser Selbstbetrug gelang ihr nicht mehr. Zwei Jahre wollten sie, Bertrand und Thomas mindestens im Osten bleiben. Zeit genug, um endlich den Mut zu finden und nach Singapur zu fahren.
Sobald die Fischer den Strand erreichten, war es mit der Ruhe vorbei. Noch bevor der Fang an Land war, drängelten
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