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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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Schürze und den streng zurückgenommenen Haaren war ihre Ziehtochter bezaubernd, doch brauchte es ein unvoreingenommenes Auge, um ihre Schönheit zu würdigen. Lilys gemischte Herkunft war unverkennbar. Johanna empfand den Kontrast zwischen ihrer schmalen europäischen Nase und dem chinesischen Schnitt der Augen sowie dem vollen Mund als überaus apart, doch leider stand sie damit recht allein da. Die meisten Chinesen und Europäer fanden neben Vertrautem in Lilys Gesicht auch genügend Fremdes, das sie zurückschrecken ließ. Trotzdem hätten sich früher oder später Bewerber in der chinesischen christlichen Gemeinde gefunden, wäre da nicht Lilys Klugheit gewesen, ihre Intelligenz und der unbedingte Wille, ihr Leben selbstbestimmt zu führen.
    Das Scheppern der Türglocke riss Johanna aus ihren Überlegungen. Sie machte Lily ein Zeichen, sich nicht stören zu lassen, und eilte in der Erwartung eines Notfalls zur Tür. Varsha war jedoch schneller gewesen, hatte den Riegel beiseitegeschoben und die Tür einen Spalt aufgezogen. Im schummrigen Licht der Straßenbeleuchtung stand ein Mann. Johanna trat einen Schritt zurück und verbarg sich halb hinter einem Schrank. Sie hatte ihn sofort erkannt.
    Er bemerkte sie nicht, sondern wechselte einige Worte mit Varsha, die nicht bereit war, ihn einzulassen. Nur wenigen Männern wurde der Zutritt in die Klinik gestattet. Als Johanna sah, dass Varsha ihn abwimmeln wollte, fasste sie sich ein Herz und trat näher.
    »Lass gut sein, meine Liebe«, sagte sie und öffnete die Tür ganz. »Herzlich willkommen, Henry.«
     
    Wenig später saßen sie in einer Teebude, deren ausnahmslos chinesische Gäste sich nicht an Johannas und Henrys Anwesenheit störten und lautstark stritten, lachten, schlürften und sogar sangen. Johanna und Henry hatten noch kein Wort gewechselt, zu verlegen waren sie, doch in der duftsatten, lebensfrohen Bude entspannte sich Henry zusehends. Johanna musterte ihn. Im Gegensatz zu ihr hatte sich kein graues Haar auf seinen Kopf verirrt, sein Schopf war noch immer dicht und dunkel. Die Zeit hatte andere Spuren hinterlassen.
    Wie viel älter war er als sie? Sechs Jahre? Nein, nur fünf, jetzt fiel es ihr wieder ein. Neunundvierzig also. Kein alter Mann, aber auch kein junger. Die leicht gebeugten Schultern zeugten von Erschöpfung, die nicht nur von der Reise herrührte. Tiefe Linien hatten sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln gegraben, Sorgenfalten in die Stirn. Schön war er nicht, war es nie gewesen, und doch schien ihr Henry der anziehendste Mann der Welt.
    »Du bist also wieder da«, begann sie. Eine wenig geistreiche Eröffnung, nachdem sie sich fünfzehn Jahre nicht gesehen hatten, aber einer von ihnen musste schließlich den Anfang machen.
    Er lächelte, die Falten verloren ein wenig an Tragik. »Ja«, sagte er. »Endlich.«
    »Wann bist du angekommen?«
    »Vor wenigen Stunden. Mercy und Andrew saßen auf ihrer Veranda und schickten mich her. Mercy ist ganz die Alte, nicht wahr?« Seine Stimme verlor sich, seine Augen hefteten sich auf ihr Gesicht. Johanna fühlte einen altvertrauten Klumpen in der Kehle. Hatte sich denn nichts geändert? In ihrer Brust wirbelten Gefühle empor, die sie längst zu Staub zerfallen geglaubt hatte. Sie spürte die alte Liebe heftig aufflackern und flüchtete sich in Allgemeinplätze, um das Feuer im Keim zu ersticken. Sie berichtete über Cameron und erfuhr, dass ihr Telegramm Henry bewogen hatte, den langgehegten Traum wahr werden zu lassen und in die Tropen zurückzukehren. Erzählte ihm vom Stand der Hochzeitsvorbereitungen, von den kleinen und großen Ereignissen ihres Alltags. Es erschien ihr furchtbar banal, doch er lauschte mit großem Interesse. Erst als sie bei Lily anlangte, ergriff er das Wort.
    »Mit deiner Klinik hast du Großes geleistet.«
    »Allein hätte ich es nie schaffen können. Wie ich dir geschrieben habe, trägt Chee Boon Lee die Kosten. Das zweite Haus hat Bowie beigesteuert.«
    »Mich wundert, dass ihr nicht eine ruhigere Gegend gewählt habt.« Er wies auf die belebte, hellerleuchtete Straße, wo sich zwei malaiische Polizisten lautstark mit dem Führer eines Ochsenkarrens stritten; ein stattlicher Sikh mit rotem Turban mischte sich ein, es folgten drei britische Soldaten und eine bunte Schar Schaulustiger, die das Geschehen kommentierten.
    »Nach dem Brand in Rochor ist uns klargeworden, dass wir dort sein müssen, wo unsere Patientinnen sind. Aus gutem Grund hatte sich kaum eine in das

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