Die Insel der Orchideen
Ah bei ihr. Es gelang ihr, sie aufzurichten und ins Schlafzimmer zu geleiten. Mit geübten Griffen entkleidete sie Leah und häufte Decken über sie. Leah ließ es geschehen, ihr war alles einerlei. In ihrem Fieberwahn vermeinte sie, Stimmen und das Trappeln von Schritten zu hören. Nach einigen Stunden ließ das Frösteln nach, dafür wurde ihr übel, und ihre Haut setzte sich in Brand. Jede Berührung ließ sie aufstöhnen, doch Miss Ah wusste, was zu tun war. Mit bemerkenswerter Effizienz wechselte sie die Wadenwickel, flößte ihr Wasser ein und hielt die Spuckschale. Die Nacht brach herein, und das Fieber ebbte ab. Ermattet schlief Leah ein. Sie träumte von Ah Wen.
* * *
Zur selben Zeit, als Leah Miss Ahs Ankunft beobachtete, ging Johanna in Begleitung von Mijnheer Schruit, dem freundlichen neuen Leiter des Telegrafenamts von Anjer, von Bord eines Schiffes aus Batavia. Sie war überaus nervös. Irgendwo in diesem Ort lebte Leah, irgendwo hielten sich Lily und Bowie auf. Sie musste Lily so schnell wie möglich finden. Der erzwungene Umweg über Batavia, wo die
Queen of the Far East
bereits beladen wurde, hatte sie zwei Tage gekostet. Johanna hatte umgehend beim Kapitän vorgesprochen, der ihr bestätigte, Bowie und Lily drei Tage zuvor in Anjer abgesetzt zu haben. In der folgenden Woche sollte er sie dort wieder einsammeln. Glücklicherweise war schon am nächsten Vormittag das Postschiff nach Anjer ausgelaufen und hatte das Städtchen wenige Stunden später erreicht.
Johanna sah sich um. Anjer war recht klein, und sie ging davon aus, dass Bowie im besten Hotel am Platz abgestiegen war. Sie hätte viel darum gegeben, der Konfrontation mit ihm aus dem Weg zu gehen. Hatte sie nicht genug Probleme? Sie dachte an Henry. Die einsamen Tage an Bord hatten ihr zugesetzt; immer und immer wieder waren ihre Gedanken um ihn gekreist. Er hatte sie maßlos enttäuscht, nicht mit seinem plötzlichen Sinneswandel, sondern mit seiner Feigheit. Weder hatte er es für nötig gehalten, ihr in Singapur eine Nachricht zukommen zu lassen, noch hatte in Batavia ein Telegramm mit einer Erklärung für sein Verhalten auf sie gewartet. Johanna ballte die Fäuste, bis sich die Fingernägel schmerzhaft in ihre Handflächen pressten. So hart es sie ankam, dieses Kapitel ihres Lebens war beendet. Ein für alle Mal.
Mijnheer Schruit besorgte eine Kutsche, und kurz darauf hielten sie vor einem kleinen Hotel in den Hügeln im hinteren Teil des Ortes. Johanna fragte den Besitzer nach Bowie und Lily.
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Die beiden logieren allerdings hier«, sagte er.
»Sind sie im Haus?«
»Nein. Die junge Dame verließ das Hotel am Vormittag, Mr Bowie folgte kurz darauf.«
Sein pikierter Ton war nicht zu überhören. »Ist etwas vorgefallen?«, fragte Johanna.
Ihre Frage gab ihm die Gelegenheit, sich richtig zu empören. »Dies ist ein respektables Haus. Ich kann nicht dulden, dass die Herren Kaufleute sich mit ihren Mätressen hier einquartieren und ihnen offen schöne Augen machen. Ich habe Mr Bowie bereits nahegelegt, die Chinesin anderswo unterzubringen. Bis tief in die Nacht sitzen sie gemeinsam auf der Veranda.« Plötzlich zügelte er sich, vielleicht weil ihm seine Taktlosigkeit bewusst wurde. »Sind Sie Mrs Bowie?«, fragte er kleinlaut.
Johanna schüttelte den Kopf. Lily und Bowie sollten ein Verhältnis haben? Sie glaubte es nicht, andererseits schien sich der Mann seiner Sache sehr sicher.
Ihr Zimmer war klein und muffig, über ein eigenes Bad verfügte es nicht. Die besten Zimmer hätten eben schon Mr Bowie und seine Chinesin okkupiert, ließ der unsympathische Hotelbesitzer verlauten. Johanna war es gleichgültig. Sie machte sich im nebenan gelegenen Bad- und Toilettenhaus frisch, zog ein sauberes Kleid an und ging wieder zur Rezeption, wo sie auf höfliche Floskeln verzichtete und direkt zur Sache kam. »Wo wohnt der Earl of Arliss?«
»Weiß ich nicht.« Der Hotelbesitzer sah nicht einmal von seinen Papieren auf.
»Das glaube ich nicht. Ich wette, dass ein reicher englischer Graf in diesem Städtchen für einige Aufregung sorgt. Schließlich scheint Klatsch in Anjer eine der Hauptbeschäftigungen zu sein«, fügte sie bissig hinzu.
Sein Kopf schnellte hoch. »Sie wagen es, mich zu beleidigen? Langsam habe ich Sie und Ihre Bekannten satt.«
Johanna verschlug es die Sprache.
»Von mir erfahren Sie überhaupt nichts mehr. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
»Johanna?«
Sie fuhr herum.
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