Die Insel der Orchideen
In der Tür stand Ross Bowie mit schuldbewusster Miene. »Wo ist Lily?«, herrschte sie ihn an.
Er wirkte ehrlich erstaunt. »Ist sie nicht hier?«
»Was soll das? Ist sie bei Leah?«
»Möglich. In den letzten Tagen hat sie mehrere Anläufe unternommen, ihre Mutter zu besuchen, aber jedes Mal einen Rückzieher gemacht. Die Offenbarung war ein ziemlicher Schock für sie. Für mich übrigens auch.«
»Für Sie? Was geht es Sie an?«
»Nichts. Aber ich nehme trotzdem Anteil. Ehrlich gesagt, habe ich Sie eines solchen Betrugs nicht für fähig gehalten.«
»Und deshalb verführen Sie mein Kind?«
»Sind Sie von Sinnen?« Er dirigierte Johanna in den Garten, außerhalb der Hörweite des Hotelbesitzers, der dem Streit sensationslüstern folgte.
»Sie tun mir weh.«
Er ließ ihren Arm los. »Ihre Unterstellung ist ungeheuerlich«, sagte er bitter.
»Sie sind beobachtet worden.«
Er sah sie lange an. Seine Züge glätteten sich zu einer undurchdringlichen Maske. Er verbeugte sich leicht. »Dann wird es wohl stimmen. Ich empfehle mich.«
»Warten Sie. Sagen Sie mir, wo Lily ist.«
»Wie ich schon sagte: Ich weiß es nicht. Sie ist ihre eigene Herrin.«
»Ross, bitte!«
Ein Junge kam in den Garten gerannt. Nachdem er sich vergewissert hatte, den richtigen Weißen vor sich zu haben, übergab er Bowie einen zusammengefalteten Zettel und trollte sich. Bowie überflog die Nachricht.
»Von Lily«, sagte er kurz angebunden. »Sie hat den Mut aufgebracht, ihre Mutter zu besuchen. Allerdings hat Leah einen Malariaanfall. Lily wird die Nacht bei ihr verbringen. Wenn ich es richtig verstehe, sind Leahs Mann und ihr Sohn im Hinterland unterwegs, und Dienstboten gibt es nicht.«
»Ich helfe ihr.«
»Das werden Sie nicht tun. Drängen Sie sich nicht dazwischen. Sie haben schon genug angerichtet. Wenn Leah wieder gesund ist, haben Sie alle Zeit der Welt, sich zu erklären. Ich beneide Sie nicht«, fügte er hinzu und verließ den Garten.
Johanna blieb mit hängenden Schultern zurück. Bowies Worte trafen sie; sie war nicht vorbereitet auf den Schmerz, den seine Ablehnung ihr bereitete. Hatte er richtig gehandelt, als er Lily die Passage nach Anjer anbot?
Aller Kraft beraubt schlich sie die Treppe hinauf und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Ihr blieb nichts, als zu warten.
* * *
Gegen Morgen war die Krise überstanden. Nachdem das Fieber über Stunden hoch geblieben war, fing Leah schließlich an zu schwitzen, während gleichzeitig ihre Temperatur sank. Lily hatte alle Hände voll zu tun, die Leiden der Kranken zu lindern, indem sie ihr Wasser einflößte, den Schweiß abwusch und die nassen Laken ein ums andere Mal wechselte. Obwohl sie um die tödliche Gefahr wusste, die von dem Malariafieber ausging, war Lilys Beunruhigung im Laufe der Nacht abgeklungen. Leah hatte ein starke Konstitution, und alles deutete darauf hin, dass sie den Anfall gut überstehen würde.
Das Licht des anbrechenden Tages stahl sich durchs Fenster. Lily stand auf, um die Bambusrollos herunterzulassen; nichts sollte Leahs Schlaf stören, denn sie musste Kraft für den zweiten Fieberschub sammeln, der sie am morgigen Tag mit großer Sicherheit überfallen würde. Leah murmelte etwas Unverständliches. Lily strich ihr eine verklebte Haarsträhne aus der Stirn und betrachtete die Kranke. Sie konnte es nicht fassen, dass diese Frau ihre leibliche Mutter sein sollte. Vergeblich suchte sie nach einer Ähnlichkeit. Dennoch fühlte sie sich ihr weit über das intime Verhältnis hinaus, das sich bei der Krankenpflege oft einstellte, verbunden. Allein diese Stunden mit ihrer Mutter waren es wert, hergekommen zu sein.
Sie konnte es kaum erwarten, Leah kennenzulernen. Wenn Lily den Zeitungsartikeln aus der Bibliothek in Singapur glauben durfte, hatte diese Frau es geschafft, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Leahs Mann und Sohn kamen ihr in den Sinn. Obwohl ihr klar war, dass die Mutter sie niemals anerkennen konnte, schmerzte die Vorstellung sie schon jetzt. Eifersucht auf den unbekannten Halbbruder regte sich, Eifersucht auf den Mann an Leahs Seite, dem ihre Mutter den Vorzug vor Chee Boon Lee gegeben hatte.
Lily erschrak. Wie konnte sie derart giftige Gedanken zulassen? Was wusste sie schon von dem, was damals geschehen war? Um sich abzulenken, ging sie in die Küche und improvisierte aus den vorhandenen Lebensmitteln ein Frühstück. Der Junge vom Tag zuvor steckte seinen Kopf zur Tür herein, in der Hoffnung, sie möge ihn für
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