Die Insel der Orchideen
weitere großzügig entlohnte Botendienste benötigen. Lily schrieb Bowie eine kurze Einkaufsliste und bat ihn, am Nachmittag vorbeizuschauen. Bis dahin wollte sie mit Leah allein sein.
Nach dem Frühstück ließ sie sich auf der Veranda nieder, doch der Anblick der dunkelgrauen Rauchwolke über der Vulkaninsel, das ständige Grollen und die immer wiederkehrenden Erdstöße ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Mit einiger Mühe zerrte sie einen der Korbstühle von der Veranda ins Schlafzimmer, um ihre Wache neben dem Bett fortzusetzen. Leah schlief friedlich, ihr Atem ging gleichmäßig. Erst als sie saß, spürte Lily die eigene Müdigkeit und schloss die Augen.
»Leah? Darling? Wir sind wieder da.«
Lily schrak aus dem Schlaf. Bevor sie sich orientieren konnte, stürmte ein schlanker Mann herein. Rötlich graue Haarsträhnen klebten an seinem Kopf, Schmutzschlieren zogen sich von den Wangen bis zum Hals und verschwanden unter einem durchgeschwitzten, dreckstarrenden Hemd. Er entdeckte Lily und blieb verwirrt stehen. Sein Blick wanderte von ihr zu Leah, die überraschend wach in ihrem Bett lehnte.
»Was ist hier los?«, polterte er. »Wer sind Sie? Wo ist Shinta?«
»Beruhige dich, Bertrand. Ich habe Shinta fortgeschickt.« Leah hatte Mühe, mit ihren trockenen Lippen zu sprechen. Lily, um Worte verlegen, gab ihrer Mutter ein Wasserglas. Leah nahm einen langen Zug. »Diese junge Dame hat der Himmel genau im richtigen Moment geschickt, so dass sie mir bei einem Fieberanfall beistehen konnte.« Ein Lächeln stahl sich auf ihr blasses Gesicht. »Ich schulde ihr großen Dank.«
Lily senkte den Kopf. Sie wollte nichts von Schuld hören, sonst brach sie noch in Tränen aus. Gleichzeitig stieg unsägliche Enttäuschung in ihr auf. Heimlich hatte sie gehofft, ihre Mutter würde sie erkennen. Sie riss sich zusammen. Wenn sie schon heulen musste, dann allein in ihrem Hotelzimmer oder an Ross Bowies Schulter; der hatte mittlerweile Übung im Trösten. Kurz stand das Bild des Schotten vor ihr. Wie auch immer diese unüberlegte Reise ausgehen würde, sie hatte ihr Ross Bowie beschert. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, und sie würde zu ihm halten, was auch immer Johanna dagegen einzuwenden hatte.
Sie streckte Leahs Mann die Hand entgegen. »Ah Wen«, sagte sie, »ich bin Krankenpflegerin.« Das Wort brachte ihren Stolz zurück. Sie war kein Niemand. Selbstbewusst fuhr sie fort: »Ihre Frau leidet unter Malaria. Im Moment ist sie fieberfrei, doch ihr Zustand wird sich bald noch einmal stark verschlechtern. Wenn Sie möchten, komme ich gern wieder. Schicken Sie einfach einen Boten zum Bintang-Hotel. Selamat tinggal.« Sie neigte knapp den Kopf vor dem verblüfften Earl, nickte Leah zu und wandte sich zur Tür. Unbehelligt erreichte sie die Haustür, vor der ein rothaariger Jüngling damit beschäftigt war, mehrere Kiepen zu entladen. Sie warf ihm einen Gruß zu. Erst jetzt realisierte sie, dass es gerade Mittag war; sie konnte höchstens eine Stunde geschlafen haben. Hinter ihr ertönten Schritte, dann legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
»Warten Sie«, sagte der Earl. »Meine Frau möchte mit Ihnen sprechen.«
»Sie soll sich ausruhen, viel trinken und Chinin nehmen. Mehr kann man nicht machen.«
Er musterte sie neugierig. Trotzig erwiderte sie seinen Blick. Wenn sie jedoch erwartet hatte, dass er ihr Verhalten ungebührlich finden würde, wartete er mit einer Überraschung auf. »Sie haben meinen allergrößten Respekt, Miss Ah. Die Krankenpflege und Medizin erfordern Wissen und Mut, und bei Ihnen erkenne ich beides. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten, sobald ich mich frisch gemacht habe. Bitte, entsprechen Sie der Bitte meiner Frau. Es ist ihr wichtig.«
Sein entwaffnendes Lächeln nahm Lily den Wind aus den Segeln. Sie ging mit ihm zurück ins Haus. Vor der Schlafzimmertür entschuldigte er sich und verschwand in Richtung des Badhauses. Lily huschte leise ins Zimmer. Die Rollos waren hochgezogen, Licht fiel auf Leahs feines, von braunen Locken eingerahmtes Gesicht, das die ihr innewohnende Willenskraft nicht verbarg. Jetzt blickte sie ihrer Besucherin jedoch verunsichert entgegen. Lily zog die Tür hinter sich zu. »Sie wollen mit mir sprechen?«
Leah räusperte sich. »Von diesem Moment habe ich vierzehn Jahre lang geträumt«, flüsterte sie. »Magst du dich zu mir setzen, Lily?«
Lily erstarrte. »Du hast mich erkannt?«
»Erst heute Morgen, als du im Stuhl neben meinem Bett schliefst.« Ein
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