Die Insel der Orchideen
wusste nichts zu antworten. Es gab keine Worte, die den Schrecken linderten, keine Worte, um die Heilerin zu trösten, die ihren Mann vermisste und den jüngsten Sohn, weil sie am Tag der Katastrophe zu Besuch bei Verwandten am Meer weilten. Leah seufzte. Wie sollte sie auch trösten, wo doch mit jeder Stunde die Flamme ihrer eigenen Hoffnung an Leuchtkraft verlor.
Ihr geliebter Mann, ihre Schwester und Ross Bowie waren in den Fluten umgekommen, die nimmersatt Menschen und Tiere, Städte, Dörfer und Felder verschlungen hatten. Hoch wie zehn Häuser übereinander sei die Welle gewesen, berichteten die Überlebenden. Ein Monster aus den Tiefen des Meeres.
Die Heilerin drückte Leah kurz an sich, dann ging sie wortlos zu ihrem Haus, wo Dutzende Verletzte auf sie warteten. Leah kehrte ins Versammlungshaus zurück. Etwa zwei Dutzend Menschen lagen auf dem Boden, die Blicke leer vom schmerzlindernden Opium. Einheimische Frauen, von Lily schon am ersten Tag im Eilverfahren mit den Grundlagen der Krankenpflege vertraut gemacht, huschten hierhin und dorthin, wechselten Verbände aus Rindenbast, wuschen Wunden, wedelten Fliegen fort, säuberten das große Haus. Leah trat zu ihrer Tochter, die neben dem Lager eines Mädchens kniete. Gerade schloss sie dem Kind die Augen.
»Sie ist erlöst«, sagte sie. »Niemand hätte sie retten können. Sie war zu stark verbrannt.« Lily erhob sich und ließ ihre verkrampften Schultern kreisen. »Ich muss mit dir reden.«
Leah nickte beklommen, ahnend, was Lily ihr sagen wollte. Gemeinsam gingen sie zum hinteren Teil des Hauses, wo ein provisorischer Vorhang einen kleineren Raum von den Lagern abtrennte.
»Wie geht es Thomas?«
»Nicht gut. Er wird es nicht schaffen. Es sei denn …« Lily strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem Zopf gelöst hatte. »Vorhin war er wach. Er weiß, wie es um ihn steht, und will, dass ich es tue.«
»Sprich es aus. Ich ertrage es.«
»Es ist ein großes Risiko. Ich habe bei so etwas bisher nur assistiert, und die hygienischen Umstände hier sind denkbar schlecht.« Sie straffte sich. »Der Stein hat Thomas’ Arm zertrümmert, das Fleisch ist brandig. Ich muss den Arm amputieren. Vielleicht überlebt er es, vielleicht nicht. Wenn ich es nicht tue, wird er vor dem nächsten Morgen sterben.«
Stolz auf ihre Tochter erfüllte Leah, überdeckte für den Augenblick ihre Trauer. Wenn jemand ihren Sohn zurück ins Leben holen konnte, dann Lily.
»Tu es«, sagte sie fest.
»Gut. Zwei der Frauen werden mir assistieren. Du musst nicht dabei sein, wenn du es nicht möchtest.«
Leah nickte dankbar, dann floh sie aus dem Haus und setzte sich unter einen ausladenden, von einer Würgefeige fast erdrosselten Baum im Zentrum des Dorfes. Die Tochter der Heilerin hockte sich zu ihr, drückte ihr stumm die Hand, ging dann weiter, um ihre Ernte an Heilpflanzen bei der Mutter abzuliefern. Die kranke Sonne wanderte in den Zenit, Hitze lastete auf der zertrümmerten Welt.
Zwei Menschen wankten den Dorfweg herauf, ein Mann und eine Frau, zerlumpt, zermürbt. Leah erhob sich, dankbar für eine Aufgabe. Hier waren Überlebende, um die sie sich kümmern musste. Die Frau strauchelte. Der Mann half ihr auf und blickte sich suchend um. Leah stutzte. Beschattete ihre Augen gegen das grelle Mittagslicht.
Sie waren es. Mussten es sein.
Johanna und Bertrand.
Epilog
20 . Oktober 1883
A m frühen Nachmittag zwang ein Schwächeanfall Onkel Koh, sich im Schatten eines Lagerhauses auf einer Taurolle niederzulassen. Henry hatte ihn im ersten Morgenlicht abgeholt, um mit ihm zum Neuen Hafen zu fahren, und seitdem warteten sie. Im Laufe des Vormittags waren erst Ping und Lim zu ihnen gestoßen, später auch Hermann, die hochschwangere Dinah mit Roy sowie Carl, Mercy und Andrew Robinson. Aller Augen war auf die Einfahrt der Wasserstraße gerichtet. Das Schiff würde vielleicht heute kommen, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen – gleichgültig. Seit Hermann das Telegramm aus Batavia erhalten hatte, in dem Johanna in dürren Worten mitteilte, dass sie überlebt hatten, konnte keine Verzögerung ihre Freude trüben. Selbst die Betroffenheit über Ross Bowies Tod überschattete nur kurz die Hochstimmung.
Ein Tumult auf dem Pier ließ den alten Geschichtenerzähler aufmerken. Alle drängten sich näher zum Wasser, winkten, jauchzten, lachten. Er erhob sich mühsam, die Gelenke krachten bedenklich. Gemächlich schlurfte er auf die außer Rand und Band
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