Die Insel der Orchideen
neben ihn. »Sie weilen also noch unter den Lebenden«, sagte er und zündete sich eine Zigarre an. »Ich hätte keine Wette darauf angenommen.«
»Ein Christ wettet nicht auf Menschenleben«, antwortete Uhldorff verärgert. Er wollte sich an dem anderen vorbeizwängen, doch der hielt ihn auf.
»Ich entschuldige mich in aller Form«, sagte der Untersetzte mit seltsam brüchiger Stimme. Die aufgehende Sonne spendete genügend Licht, um die Schatten unter seinen stumpfen, resignierten Augen, die tiefen Linien in den Mundwinkeln zu enthüllen. Der englische Kaufmann hatte alles verloren. Sein Geschäft. Sein Haus. Seinen besten Freund und Kompagnon. Hermann-Otto Uhldorff nahm seine Hand und drückte sie. »Ich weiß um Ihr Leid. Haben Sie sich entschieden? Werden Sie uns nach Hongkong begleiten?«
Der Engländer wies mit dem Daumen über die Schulter. »Alles ist fertig gepackt. Viel ist es ja nicht mehr.«
Vier Stunden später steuerte die
Mandarin
in die Mitte des Perlflusses. Feuchter Nebel umwaberte das Schiff und entzog die Stadt binnen Minuten den Blicken der zwölf schweigenden Passagiere an Deck. Einer nach dem anderen zogen sie sich in ihre Kabinen zurück, bis nur noch Hermann-Otto Uhldorff dem kalten Wetter trotzte. Chinesische Dschunken und britische Kriegsschiffe tauchten aus dem Nebel auf und verschwanden wieder, lautlos, unwirklich. Uhldorff starrte auf die wirbelnden, umeinandertanzenden Nebelfetzen, alles verschlingende Geister einer Welt, in der er nicht hatte Fuß fassen können. Der Umriss der großen Pagode, die den Fluss zwischen Kanton und Whampoa bewachte, schälte sich aus dem wattigen Nichts. Sie schien ihm wie das Symbol seiner persönlichen Niederlage. Wie hoch hatte sein Herz geschlagen, als er das Bauwerk vor einigen Monaten zum ersten Mal sah, wie eifrig hatte er sich gewünscht, seinen Beitrag zu leisten, damit bald Kirchtürme den heidnischen Tempeln den Himmel über China streitig machten! Und nun flüchtete er, flüchtete vor der Feindseligkeit der Chinesen und der Arroganz der Briten, die fest entschlossen schienen, das bürgerkriegszerrissene Reich der Mitte noch tiefer ins Unglück zu drängen.
Seine Gedanken schweiften nach Hongkong und Singapur, und er lächelte unbewusst. Auch wenn er hier nicht viel erreicht hatte, gab es doch Gründe genug, der Zukunft mit Freude entgegenzublicken. Voller Zärtlichkeit ließ er die Bilder seiner Frau und seiner Töchter an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Nach vorn musste er blicken. In wenigen Tagen würde er gemeinsam mit von Trebow und Farnell in Hongkong speisen und die Gegenwart der lebenssprühenden, ehrgeizigen jungen Männer genießen. Er würde eine Schiffspassage für sich und von Trebow nach Singapur buchen, wo nicht nur seine Familie, sondern auch eine Menge Arbeit auf ihn wartete. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Mit neuer Zuversicht strebte er der Tür zum Passagierdeck zu. Einige chinesische Seeleute lungerten in der Nähe der Tür. Er grüßte sie auf Kantonesisch, doch sie warfen ihm nur scheele Blicke zu. Als er die Tür hinter sich zuzog, hatte er das unangenehme Gefühl, ihre Blicke bohrten sich in seinen Rücken.
Hermann-Otto Uhldorff warf sich unruhig auf seiner Pritsche hin und her. Beunruhigende Bilder schlichen sich in seine Träume, die Nebelgeister des Vortags verwandelten sich in Menschen aus Fleisch und Blut, die mit gezückten Schwertern aufeinander losgingen. Schreie gellten durch seinen Kopf, der Widerhall von Kämpfen. Mühsam quälte er sich aus dem Alptraum. Der Lärm dauerte an.
In Windeseile kleidete er sich an, während nicht weit entfernt ein Mensch in höchster Not schrie. Dann brach der Schrei ab. Hermann-Otto Uhldorff zitterte unkontrolliert. Angespannt lauschte er in die Stille, die noch unerträglicher war als der Tumult zuvor. Schwere Schritte kamen den Gang herunter. Er hörte Metall gegen Metall schlagen. Bewegungsunfähig verharrte er auf seiner Pritsche und starrte auf die Kabinentür.
Die Tür krachte aus den Angeln. Ein Chinese stürmte in die Kabine, in der Hand ein blutiges Messer.
* * *
Das neue Jahr war bereits drei Wochen alt. Johanna, Leah und ihre Mutter saßen mit ihrem Lehrer auf der Veranda und übten sich in malaiischer Konversation. Auf Leahs Betreiben hin kam zweimal die Woche ein freundlicher Mann namens Shamsudin ins Haus und brachte ihnen seine Sprache bei. Malaiisch war nicht nur die Lingua Franca der Kolonie, sondern diente auch als
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