Die Insel der Orchideen
Handelssprache der gesamten Region. Shamsudin, der in der Stadtverwaltung arbeitete und fließend Englisch sprach, unterrichtete mit Begeisterung, und alle drei hatten gute Fortschritte gemacht. Nur heute fielen Johanna die einfachsten Sätze nicht ein. Ihre Gedanken schweiften ständig ab.
»Die Mangos, die er gekauft hat, sind sehr süß. Miss Johanna?«
»Buah mangga yang dibelinya itu sangat …« Es war zum Verzweifeln: Ihr fiel das malaiische Wort für »süß« einfach nicht ein, dabei hatte sie es schon vor Monaten gelernt.
»Manis«, sagte Shamsudin, »sangat manis. Sehr süß. Mrs Uhldorff, können Sie mir bitte folgenden Satz übersetzen?«
Johanna hörte nicht mehr zu, sondern konzentrierte sich auf das Geschehen vor dem Haus. Jede vorbeifahrende Kutsche, jeder Schritt und jeder Laut auf der Straße ließ ihr Herz heftig schlagen. Am Morgen war das Postschiff aus Hongkong eingetroffen, und sie wartete sehnsüchtig auf Nachrichten. Sie machte sich Sorgen. Die letzten beiden Schiffe hatten keine Post vom Vater gebracht. Irgendetwas stimmte nicht.
Schritte näherten sich, verhielten. Johanna ertrug die Ungewissheit nicht länger, sprang auf und stürzte dem Postangestellten entgegen. Höflich überreichte er ihr einen von Henry Farnell an die Mutter gerichteten Brief. Angesichts ihres erwartungsvollen Blicks drehte er entschuldigend die leeren Hände nach oben. »Es tut mir leid, mehr habe ich nicht für Sie.«
Johanna musste sich am Gartentor festhalten, um nicht zusammenzusacken. »Nichts?«
Der Mann schüttelte den Kopf. Leah, Alwine Uhldorff und Shamsudin erschienen am Tor. Die beiden Männer verabschiedeten sich und gingen ihrer Wege.
»Was ist geschehen?«, fragte Leah besorgt.
»Papa hat wieder nicht geschrieben. Friedrich auch nicht.« Johanna erkannte ihre eigene Stimme kaum. Mehr als ein brüchiges Flüstern brachte sie nicht zustande. Schweigend tauschten die drei Frauen Blicke. Die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Wieder auf der Veranda, riss die Mutter den Brief auf. Stockend las sie vor.
Hongkong, den 16 . Januar 1857
Sehr geehrte Mrs Uhldorff, geschätzte Miss Johanna, geschätzte Miss Leah,
Friedrich liegt mit schwerer Krankheit danieder, so dass es an mir ist, Ihnen die traurige Nachricht mitzuteilen. Ich ringe mit mir, doch keine Formulierung kann der Wahrheit den Schrecken nehmen. Verzeihen Sie mir, der ich nie die Kunst des förmlichen Schreibens zu beherrschen lernte, meine plumpen und direkten Worte:
Ihr Mann und Vater ist tot.
»Nein!« Leahs Schrei zerriss den balsamweichen Nachmittag. Johanna krampfte die Hände um die Stuhllehne. Der Vater war tot! Es konnte nicht sein, durfte nicht sein. Das Gesicht der Mutter hatte alle Farbe verloren. Johanna sah ihr Zittern, doch sie fühlte sich außerstande, ihr beizustehen. Tonlos las Alwine Uhldorff weiter:
Die Nachricht erreichte Hongkong am gestrigen Morgen. Wie geplant hatte Herr Uhldorff Kanton am 1 . Januar an Bord der Mandarin verlassen. Was später geschah, vermag bisher niemand genau zu sagen. Es geht das Gerücht, chinesische Soldaten des Gouverneurs Yeh hätten sich als Matrosen verkleidet auf dem Schiff befunden und eine Meuterei angezettelt. Erst vor drei Tagen fand ein britisches Kanonenboot das Schiff steuerlos treibend vor einer der Inseln im Perlfluss. Die Leichen der ermordeten Passagiere lagen im Laderaum.
Bei der morgigen Beerdigung werde ich Ihrem Mann und Vater die letzte Ehre erweisen. Ich habe ihn sehr geschätzt, doch kann ich den tiefen Verlust, den Sie empfinden müssen, nicht ermessen. Seien Sie sich meines Mitgefühls versichert.
Es schmerzt mich in der Seele, Ihnen eine weitere schlechte Nachricht überbringen zu müssen. Wie Sie eventuell bereits wissen, haben sich die Spannungen zwischen China und Großbritannien in den letzten Wochen verstärkt. Gestern gipfelte dies in einem feigen Anschlag auf die europäische Bevölkerung Hongkongs. Ein chinesischer Bäcker hatte Arsen in den Brotteig gemischt, mit dem Ziel, dass es so viele wie möglich von uns dahinraffte. Glücklicherweise verschätzte er sich in der Menge. Kaum genossen, erbrachen alle Betroffenen, darunter nicht wenige Chinesen, das Brot sofort wieder, so dass nur geringe Mengen im Körper verblieben. Dennoch liegen mehrere hundert Männer und Frauen im Krankenbett und erholen sich von der entsetzlichen Nacht. Auch Friedrich hat von dem Brot gegessen, doch ich kann Sie beruhigen. Obwohl er noch zu
Weitere Kostenlose Bücher