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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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geschwächt ist, eine Feder zu führen, soll ich Ihnen mitteilen, dass er so bald als möglich nach Singapur reisen wird, um Ihnen beizustehen.
    Mir gehen die Worte aus. Möge Gott Ihnen in dieser schweren Stunde Trost und Stütze sein.
    Ich sende mein tiefempfundenes Beileid
    Henry Farnell
     
    Die Welt hörte auf, sich zu drehen. Die Vögel verstummten, die Sonne verbarg ihr Antlitz voller Grauen. Die Nacht brach herein. Johanna bemerkte nicht die sich an ihr labenden Moskitos, die vorbeihuschenden Fledermäuse, war taub gegenüber Lims Versuchen, sie aus der Starre zu schütteln.
    Erst viel später, der Mond stand längst hoch am Firmament, besann sie sich auf Mutter und Schwester. Gebeugt wie eine alte Frau schleppte sie sich ins Obergeschoss. Die Mutter lag bekleidet auf dem Bett, das Gesicht vom Weinen verquollen. Der Schlaf der Erschöpfung hatte sie übermannt, doch ihre Träume mussten grässlich sein. Hilflos beobachtete Johanna, wie sie sich herumwarf, die Fäuste ballte und im Schlaf wimmerte. Leise schlich sie wieder hinaus. Der Schlaf war eine Gnade, die ihr in dieser Nacht wohl nicht mehr zuteilwerden würde.
    Sie fand Leah in der Küche. Lim wiegte sie in den Armen, sein oft so unbeteiligt wirkendes Gesicht ein offenes Buch, in dem Johanna Kummer und Anteilnahme las. Dankbar für seine Hilfe ließ sie sich neben ihm auf den Küchenboden nieder und übernahm seinen Platz. Die Schwester blieb stocksteif. Als Johanna ihre Augen sah, griff das Entsetzen erneut nach ihr. Wo sonst das Leben funkelte, blickte sie in stumpfe, braune Murmeln.
    * * *
    Leah lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Durch die Wand zum Nachbarzimmer drang Johannas Schluchzen. Sie wünschte, sie könnte sich ebenso wie die Schwester und die Mutter ihrer Trauer hingeben. Ihr Inneres war jedoch erstarrt, kalt und gefühllos wie Stein, ihre Augen blieben trocken.
    Jemand klopfte an ihre Zimmertür. Sie rührte sich nicht. Dann hörte sie ein leises Klirren, Schritte entfernten sich. Lim. Sobald sie sicher sein konnte, dass der Diener wieder im Erdgeschoss war, stand sie auf. Wie schon am Morgen und am Tag zuvor hatte er eine Schüssel mit dampfender Brühe und Nudeln vor ihrem Zimmer abgestellt. Bei dem Duft zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, verlangte nach der Nahrung, die Leah ihm seit zwei Tagen verweigerte. Sie krümmte sich und stieß die Tür wieder zu, ohne die Suppe angerührt zu haben.
    Stattdessen stellte sie sich ans Fenster. Es war einer jener seltenen klaren Tage, an denen sich der Himmel in giftiges Kobaltblau gewandet hatte. Ungefiltert von Wolken und Dunst stach die Sonne den Menschen in die Augen. Unten huschte Lim durch den Garten und breitete seine frisch gewaschene Arbeitskleidung auf den Büschen aus, peinlich darauf bedacht, Johannas Orchideen und Lilien nicht zu zertreten, die sie in Töpfen und Beeten im Garten zog. Leah staunte über seinen feinen Aufzug: Zur schneeweißen Hose trug er eine indigofarbene chinesische Jacke mit hübschen Knebelverschlüssen, dazu bestickte Pantoffeln. Sie hatte ihn bisher ausschließlich barfuß oder in groben Holzpantinen gesehen. Nachdem die Wäsche versorgt war, schickte sich Lim zum Gehen an. An der Hausecke drehte er sich noch einmal um und entdeckte Leah. Zaghaft hob er die Hand und winkte ihr zu. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch sie ahnte, dass er litt, fühlte er sich doch für das Wohlergehen seiner Herrschaften verantwortlich. Und in ihr sah er eine kleine Schwester, die er beschützen wollte.
    Sie schlug mit der Faust so hart gegen den Fensterrahmen, dass sie sich die Knöchel aufschürfte. Es blutete, aber der Schmerz blieb aus.
    Nachdenklich musterte sie die Kleidung auf den Büschen. Ihr war eingefallen, warum sich Lim fein gemacht hatte: Heute feierten die Chinesen ihr Neujahrsfest. Seit er ihr davon erzählt hatte, wünschte sie, dabei zu sein. Die Erinnerung an den Ausflug mit dem Vater flutete ihren Kopf. Sie musste ins Chinesenviertel gehen. Dort, zwischen all den Menschen, würde sie den Vater vielleicht finden, nicht hier in dem stillen Haus, das ihr vorkam wie eine Gruft. Leider war ein derartiger Ausflug ohne männliche Begleitung unmöglich. Aber wen konnte sie fragen? Lim? Selbst wenn er sich einverstanden erklärte, sich an seinem freien Tag mit der jungen Mem zu belasten, hätte die Mutter es niemals erlaubt.
    Und wenn sie sich heimlich aus dem Haus stahl? Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, verließ Leah das Zimmer,

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