Die Insel der Orchideen
und schüttelte sie, die riesige, den gesamten Mittelteil des Gartens beherrschende Tamarinde beugte die Äste, kühle Luft strich in das stickige Zimmer. Eine Kokosnuss krachte auf die Erde, dann noch eine und noch eine.
»Es war eine schöne Nacht«, sagte Leah. »Konnte der große Schotte gut tanzen?«
»Bowie? Ich will es diplomatisch ausdrücken: Er ist mir nicht auf die Füße getreten. Aber es war vergnüglich.«
»Er ist dir ja kaum noch von der Seite gewichen.«
»Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
»Gott bewahre! Aber interessant fand ich ihn durchaus. Er wirkte sehr« – sie suchte nach Worten – »zupackend?«
»Das ist eine äußerst treffende Beschreibung, Schwesterherz. Ich musste ihn irgendwann höflich, aber deutlich darauf aufmerksam machen, dass ich verlobt bin.«
Die Wolken hatten die Sterne verschluckt. Ein Rauschen wie von hunderttausend Vogelflügeln füllte die Luft, es wurde lauter, und dann schlugen die ersten schweren Regentropfen aufs Dach. »Komm«, sagte Leah, »lass uns unvernünftig sein.« Sie zog Johanna hinter sich her, die Treppe hinunter, auf die Veranda und hinaus in den Garten.
Der Regen war so laut, dass sie ihr eigenes Lachen nicht hörten. In wenigen Augenblicken waren ihre Nachthemden durchnässt. Barfuß tanzten die Schwestern auf den weichen Gräsern, fassten sich an den Händen und drehten sich im Kreis, bis sie nicht mehr wussten, wo rechts und links war. Johanna fühlte sich leicht wie ein Kind, sorglos und von Liebe erfüllt; Liebe für die jubelnde Schwester, die strenge und doch so gutherzige Mutter, den Vater und Friedrich, Liebe für das Leben selbst, das es so unendlich gut mit ihr meinte.
Bis zu ihrer Todesstunde würde sie diesen letzten unbeschwerten Moment ihres Lebens nicht mehr vergessen.
* * *
Ein zarter rosafarbener Streifen deutete den Anbruch des neuen Tages über Kanton an. Düster dräuten die hohen Stadtmauern über dem silbernen Band des Perlflusses; noch schlief die Stadt.
Die Ruhe war trügerisch. Gewalt lauerte in den dunklen Gassen, Hass unter den hübsch gebogenen Dächern der Häuser und Paläste, Tod und Zerstörung in dem von Schiffskanonen zerstörten neuen Teil der Stadt und dem niedergebrannten europäischen Viertel. Traurige Ruinen bedeckten den Uferstreifen, auf dem noch vor drei Wochen die soliden Faktoreien und Kontore der Kaufmannschaften aus aller Welt gestanden hatten, und ein großes Loch klaffte in der Stadtmauer, Zeugnis der Bombardierung Kantons durch britische Kanonenboote im vergangenen Oktober, Zeugnis der Erniedrigung der Chinesen durch die ungeliebten Eindringlinge. Schon seit Gründung der Handelsniederlassung war die Stellung und Sicherheit der Europäer in dem ihnen zugeteilten Areal südwestlich von Kanton heikel gewesen, doch seit Vizekönig Yeh jedem einen fürstlichen Lohn versprochen hatte, der ihm den Kopf eines Europäers brachte, war kein Brite, Amerikaner, Franzose oder Deutscher seines Lebens mehr sicher.
Hermann-Otto Uhldorff blieb vor der angekohlten Haustür stehen, ohne zu klopfen, und blickte den entschwindenden Schemen der drei Chinesen nach, die ihn unter Einsatz ihres Lebens bis hierher, zu einem der letzten noch intakten Häuser der Handelsenklave, begleitet hatten. Er war zutiefst verunsichert. Einerseits verspürte er Erleichterung, Kanton in wenigen Stunden an Bord des Dampfers
Mandarin
verlassen zu können, andererseits fühlte er sich wie ein Deserteur. In den Monaten seines Aufenthalts hatte er einige wenige chinesische Konvertiten um sich scharen können, und es behagte ihm überhaupt nicht, sie im Stich zu lassen. Sie bestanden darauf, dass er zu seiner Familie zurückkehrte, denn niemand konnte sagen, was als Nächstes geschah. Gestern Abend hatten die chinesischen Christen ihn ein letztes Mal in die Stadt geschmuggelt und zu einem geheimen Haus gebracht, in dem er gemeinsam mit ihnen den Anbruch des neuen Jahres feierte. Es war ihm schwergefallen, Hoffnung zu predigen, als er in die müden Gesichter der mutigen Männer und Frauen blickte, die sehr wohl wussten, wie es ihnen ergehen würde, sollten sie entdeckt werden. Und die Möglichkeit, dass auch er starb, war mit jedem Tag greifbarer geworden. Ein erklärter Krieg zwischen England und China stand, soweit er es beurteilen konnte, unmittelbar bevor – ein Krieg, den er aus tiefstem Herzen ablehnte.
Die Tür in seinem Rücken wurde geöffnet. Ein untersetzter Europäer Ende dreißig trat heraus und stellte sich
Weitere Kostenlose Bücher