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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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abzuwarten, rauschte sie ins Haus und rief nach Lim. Während sie mit ihm den Arbeitsplan für die nächsten Tage besprach, musste sie sich zusammenreißen, um nicht zu heulen. Auch wenn sie sich und ihrer Mutter das Gegenteil weiszumachen versuchte, so war ihre Hoffnung doch dünn geworden. Sie hatte es schon vor Monaten gespürt: Friedrich würde nicht mehr kommen, sie nie mehr in seinen Armen halten. Das Südchinesische Meer war zu seinem Grab geworden.
    Wenn die Haie ihn nicht zerrissen hatten.
    * * *
    Der Gestank traf Leah jedes Mal aufs Neue wie ein Keulenschlag. Sie hätte es nie zugegeben, doch die in dem Haus herrschende Geruchsmelange aus Fisch, Fäkalien, Schweiß und Krankheit ließ regelmäßig Übelkeit in ihr aufsteigen. Erfahrungsgemäß gewöhnte sich die Nase schnell an alle Arten von Gerüchen, sei es das von den Europäern so geschätzte Eau de Cologne oder der fauligste Höllenbrodem, doch um diese Gewöhnung zu erlangen, musste man dem Übel lange genug ausgesetzt sein. Je mehr Zeit zwischen ihren Besuchen bei dem Geschichtenerzähler lag, desto schlimmer empfand sie den Gestank beim nächsten Mal.
    Ein älterer Chinese schlurfte aus dem Dunkel des schmalen, dafür umso tieferen Hauses und grüßte sie freundlich. »Koh Kok ist zu Hause«, sagte er. »Du warst lange nicht hier, Xue Yan.«
    Leah verbeugte sich mit genau abgemessenem Respekt. Die Grußformeln des Orients waren wesentlich komplizierter und elaborierter als die des Westens, aber sie fand sich mittlerweile gut zurecht. Angesichts ihrer Respektbekundung hätten ihre europäischen Nachbarn von der anderen Flussseite mit Sicherheit konsterniert die Nasen gerümpft, doch Leah wusste, was sie dem Älteren schuldig war. Sie vergab sich nichts, und alle waren zufrieden.
    »Es ist schwierig, mich herzustehlen, Onkel Tan«, sagte sie auf Hokkien.
    »Chinesische Mädchen würden nicht einmal daran denken, das Haus ohne Einwilligung der Eltern zu verlassen. Wärst du meine Tochter, würde es etwas setzen.«
    »Dann habe ich wohl großes Glück, nicht deine Tochter zu sein«, sagte sie. »Aber hast du mich nicht selbst gerade ›Xue Yan‹ genannt?«
    Er seufzte. »Kleiner Sperling. Ja, der Name, den Koh Kok dir gegeben hat, ist wirklich passend. Doch treibe es nicht zu weit in deinem Drang nach Freiheit.«
    Bevor er mit seiner von Besorgnis getriebenen Standpauke fortfahren konnte, huschte Leah an ihm vorbei die Treppe hinauf. Der Gestank verdichtete sich. Auf dem ersten Absatz des engen Stiegenhauses fand sie sich in einem lichtlosen Gang wieder. Acht oder neun Türen führten rechts und links in die kaum zwei Mal zwei Meter großen Holzverschläge, von denen nur die zwei zur Straße führenden und jene am Lichtschacht über ein Fenster und Tageslicht verfügten. Die meisten Türen standen offen. Erfreute Grüße schallten Leah aus den dunklen Höhlen entgegen, und sie grüßte zurück, ohne die Bewohner zu erkennen. Sie wusste, dass sich oft mehrere Menschen eine Kammer teilten; alles in allem mochten etwa zwanzig Personen in diesem Stockwerk hausen. Noch einmal so viele lebten in den Kammern über ihnen, während das Erdgeschoss von Onkel Tans Tischlerei eingenommen wurde, von der er sich eine Kammer abgeteilt hatte, die kaum größer war als die seiner Mieter. Man lebte draußen, soweit einen nicht Krankheit oder das Opium aufs Lager warfen.
    Ein kleiner Kobold sprang sie an. Quiekend und schwatzend wühlte er seine Händchen in Leahs Haare und zog an ihren Ohren. Sie hob das Äffchen von ihrer Schulter und herzte es. Das silbergraue Tier hatte im Laufe der letzten Monate einen Narren an ihr gefressen, was sicher auch daher rührte, dass sie immer frische Schlangenbohnen in der Tasche hatte, die es über alles liebte. »Ich bin’s, Onkel Koh!«, rief sie. »Komm, ich lade dich zum Essen ein.«
    Prompt schob sich aus der vorletzten Kammer das schlaftrunkene Gesicht des Geschichtenerzählers. Seine zerknautschte Miene erhellte sich, sobald er ihrer ansichtig wurde.
    Zwei Stunden später saßen Leah und der Geschichtenerzähler im Schatten eines Tamarindenbaums unten am Meer und fragten sich gegenseitig englische beziehungsweise hokkien-chinesische Vokabeln ab. Schon lange nahm im chinesischen Viertel niemand mehr Anstoß an Leahs Gegenwart. Noch immer trachtete sie, ihre wahre Identität hinter der Kulikleidung und dem Strohhut zu verbergen, doch galt diese Tarnung nicht den chinesischen Arbeitern, sondern hin und wieder durchs Viertel

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